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„Ohne Zwang tut sich nichts“
Das Gespräch führte Stefan Stahl
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:36 Uhr

Viele Bürger in Deutschland verspüren kaum noch Lust, sich eingehend mit der Schuldenkrise zu befassen. Aussagen von Politikern und Ökonomen dringen oft nicht mehr zu ihnen durch. Vielleicht gelingt es einem Zukunftsforscher wie Matthias Horx, einem bekennenden Optimisten und Provokateur, wieder Interesse für das Thema zu wecken.

Frage: Die Krise scheint uns fest im Griff zu haben. Wie kommen wir wieder raus aus dem europäischen Dilemma?

Matthias Horx: Man könnte ja zunächst einmal bezweifeln, ob der Satz „die Schuldenkrise hat uns im Griff“ nicht eine Prosa ist, die sich zu einer Art Morgengruß entwickelt hat. So wie man „Guten Tag“ sagt, sagt man heute „Wir haben Krise“ – eine Art Euphemismus für schlechte Laune. Vielleicht ist es einfach so: Wir haben es uns mit Europa und seinen Systemen in der Vergangenheit etwas zu einfach gemacht. Und jetzt erzwingen die Ausläufer der Blase im Finanzsektor Modernisierungen in Ländern, die sich bislang davor gedrückt haben. Zwei Drittel der europäischen Länder geht es gut.

Und das andere Drittel muss darben.

Horx: Das andere Drittel muss dringend Hausaufgaben machen. Sich verändern. Und die Länder werden das tun. Auf diese Weise, durch „Krisen“, entsteht letztlich Veränderung. Das ist im privaten so wie im politischen Leben: Ohne einen gewissen Zwang tut sich nichts.

Wie werden wir in 15 Jahren in Europa leben – mit oder ohne Euro?

Horx: Mit Euro. Und in einem deutlich integrierteren Europa.

Gibt es eine Chance für eine politische Union? Rückt Europa enger in der Krise zusammen oder erleben wir eine Renaissance der Nationalstaaten?

Horx: Es gibt eine Renaissance der Regionen. Die Entwicklungen in Belgien, Schottland, Katalonien, aber auch die Unzufriedenheit mit der nationalen Politik zeigt, dass der klassische Nationalstaat an systemischen Grenzen angelangt ist.

Was heißt das?

Horx: Demokratie funktioniert am besten auf regionaler Ebene. In der Region oder in der Stadt, in der man lebt, kann man Entscheidungen als Bürger nachvollziehen und beeinflussen. Wir werden in Zukunft das kantonale Prinzip der Schweiz auf die europäische Ebene übertragen. Die Nationalstaaten werden dabei eher unwichtiger. Wir nennen dies den Glokalisierungseffekt.

Wie verändert sich das Leben durch die Alterung der Gesellschaft? Haben wir eine Chance, mit dem demografischen Wandel zurechtzukommen?

Horx: Ist es schlecht, wenn wir unsere Lebensspanne erweitern? Das heißt aber, dass wir eine Gesundheitsvorsorgegesellschaft entwickeln müssen, die viele chronische Krankheiten im Vorfeld verhindert. Das ist eine große Herausforderung. Es bedeutet auch, dass die Jüngeren eher bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und dass auch die Frauen endlich bessere Möglichkeiten haben, Karriere zu machen, weil Talente knapp werden.

Wie verändert sich das Arbeitsleben?

Horx: Die Lebens- und Arbeitsmuster ändern sich, wenn unsere Biografien sich verändern. Für die Umwelt ist es auch gut, wenn es etwas weniger Menschen gibt. Die demografische Katastrophe ist hingegen wieder mal eine dieser übertriebenen Angst-Erzählungen, die sich bei näherem Betrachten als völlig übertrieben herausstellen.

Also alles halb so wild? Sind wir Deutschen Zukunftspessimisten?

Horx: Leider diskutieren wir so in Deutschland über Veränderungen: immer nur negativ.

Dann probieren wir es mal in einem positiven Ziel: Wie schaffen wir es, dass Paare mehr Kinder bekommen?

Horx: Die Bedingung einer höheren Geburtenrate besteht aus zwei Kernfaktoren: einem guten Ganztags-Kinderbetreuungssystem wie in Frankreich. Und einer anderen Zeitkultur, in der Mann und Frau auch ohne 14 Stunden Arbeit am Tag Karriere machen können. So wie in Skandinavien, wo heute Führungskräfte, die mehr als acht Stunden arbeiten, als neurotische Minderleister gelten. Für Frauen ist unser heutiges Karrieresystem hingegen eine Entscheidungsfrage: Entweder Kinder oder täglich 14 Stunden Karriere machen. Und ein nicht unwesentlicher Teil der heute sehr gebildeten Frauen verzichtet dann eben auf Kinder.

Was können insbesondere Männer vom skandinavischen Modell lernen?

Horx: In Skandinavien ist nach der Integration der Frauen in die höheren Karrieren die Geburtenrate deutlich gestiegen, weil sich gleichzeitig die Zeitkultur verändert hat. Aufstieg im Beruf ist nicht mehr durch die männerbasierte Präsenzkultur geprägt, die in deutschen Unternehmen herrscht: Wer bis 22 Uhr am Schreibtisch sitzt, gewinnt. Spannend wird es, wenn auch leistungsbewusste Männer sich mehr um ihre Kinder kümmern wollen. An diesem Punkt stehen wir heute. Und wir werden eine Quote bekommen, weil es nicht anders geht. Und dann wird die Geburtenrate wieder steigen.

Und die Jugend? Begehrt sie wieder auf? Gibt es ein neues 68?

Horx: Nein, die Revolte von 1968 war ein einmaliges Ereignis in einer einmaligen Zeit. Damals war die Gesellschaft sehr verkrustet, sehr starr und sehr konsensual. Heute ist die Gesellschaft sehr liberal und viele Menschen haben eher Angst vor Freiheit. Auch die Jüngeren.

Wie verändert sich die Arbeitswelt? Bleibt der Druck so hoch? Müssen wir in dieser Burnout-Welt immer noch produktiver werden?

Horx: In der Tat müssen wir immer produktiver werden. Das ist der wahre Kern aller Wohlstandsentwicklungen – ohne Produktivitätszuwachs gibt es keinen Fortschritt und keinen Wohlstand. Aber Produktivität heißt nicht mehr Stress, sondern mehr Intelligenz, bessere Arbeitsorganisation. „Druck“ macht Menschen ja eben unproduktiv. Das verstehen auch immer mehr Unternehmen, die ja auch ein Interesse daran haben, dass ihre Mitarbeiter nicht ausbrennen.

Matthias Horx

Der gelernte Journalist leitet das Zukunftsinstitut in Kelkheim bei Frankfurt. Das privatwirtschaftliche Institut hat heute 35 Mitarbeiter und bietet Trend-Innovations-Begleitung und die Entwicklung von Frühwarn-Systemen.

Matthias Horx (geboren 1955) hat viele Bücher geschrieben, darunter die „Anleitung zum Zukunftsoptimismus“, ein „Pamphlet gegen Untergangsideologen, Panik-Publizisten, Apokalypse-Spießer und andere Angst-Gewinnler“. FOTO: dpa

 
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