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„Notfallmedizin am Fließband“
Das Gespräch führte Nike Bodenbach
 |  aktualisiert: 20.09.2012 19:32 Uhr

Die Kinderärztin Dr. Katrin Klein aus Thüngersheim war neun Monate für die Organisation Ärzte ohne Grenzen in einer Kinderklinik im westafrikanischen Sierra Leone. Das Land gehört zu den ärmsten der Welt. Auf dem Human Development Index, der den Wohlstand eines Landes misst, liegt Sierra Leone auf Rang 180 von 187. Aktuell grassiert eine Cholera-Epidemie. Ein Gespräch über Umstände, die für Westeuropäer schwer fassbar sind.

Frage: Was ist 'alltäglich' in einer Kinderklinik in Sierra Leone?

Katrin Klein: Ich nenne es Notfallmedizin am Fließband: Es werden viel mehr Kinder ins Krankenhaus gebracht als in Deutschland, sie sind im Schnitt deutlich kränker, haben meist mehrere Erkrankungen gleichzeitig. Wenn hier in Würzburg ein bewusstloses Kind in die Notaufnahme gebracht wird, kommt das alle paar Tage vor. In Sierra Leone jeden Tag mehrfach. Darunter sind viele unter- und mangelernährte Kinder, was die Gesundheitssituation zusätzlich verschlechtert. Jede Frau bekommt im Schnitt sechs Kinder, von denen einige sterben. Fast jedes fünfte Kind stirbt vor seinem fünften Geburtstag.

Wie haben Sie das verkraftet?

Klein: An manchen Tagen habe ich fünf oder mehr Kinder sterben sehen. In Deutschland hatte ich das vielleicht alle paar Monate erlebt, meist war es lange vorher abzusehen. In Sierra Leone kommen die Kinder bewusstlos ins Krankenhaus und sterben schneller als man schauen kann. Jedes dritte Kind stirbt innerhalb der ersten 24 Stunden nach Aufnahme. Am Anfang war das sehr schockierend, ich musste rausgehen, um mich zu sammeln. Das ist ja eine gesunde menschliche Reaktion. Gewöhnen kann und sollte man sich an den Tod von Kindern nie. Man hinterfragt sich aber anfangs mehr als Arzt, das lässt später nach. Man hat gar nicht die Zeit, lange nachzudenken, weil schon die nächsten Kinder versorgt werden müssen. Es hat mir viel geholfen, die genesenden Kinder und ihre dankbaren Eltern zu sehen. Ich habe mir immer wieder bewusst gemacht, dass wir dem Gros der Kinder sehr wohl helfen können. Bei uns im Krankenhaus sind acht Prozent der Kinder gestorben, in den staatlichen Krankenhäusern waren es doppelt so viele.

Hatten Sie mit Frust zu kämpfen, weil sie wussten, viele Todesfälle wären unter besseren Bedingungen leicht zu verhindern gewesen?

Klein: Ja, sicher. Bei Kindern mit eigentlich banalen Problemen, denen wir nicht helfen konnten, weil uns einfach die Geräte gefehlt haben. Ein Kind hatte einen Fischknochen eingeatmet, der in der Luftröhre steckenblieb. Wir haben vieles versucht, konnten aber letztendlich den Knochen nicht entfernen. Das Kind ist gestorben. Es gibt im ländlichen Sierra Leone keine Gerätemedizin.

Wie behelfen sich die Ärzte?

Klein: Am meisten wert ist die klinische Erfahrung. Man lernt viel zu improvisieren, praktische Intelligenz ist gefragt. Ich habe in Sierra Leone viele Prozeduren durchgeführt, die ich in Würzburg nicht tun würde, dürfte und müsste. Ich musste eben im Einzelfall abwägen: Bekomme ich das hin? Ich kann scheitern, aber wenn ich nichts mache, stirbt das Kind sicher. Man wächst an seinen Aufgaben.

Wie gehen die Familien mit den vielen Todesfällen um?

Klein: Kinder sterben, das gehört in Sierra Leone zum täglichen Leben. Die Menschen haben gelernt, damit umzugehen, um psychisch zu überleben. Aber keine Mutter verkraftet es gut, wenn ihr Kind stirbt. Die Mütter schreien, werfen sich auf den Boden, raufen sich die Haare.

Wie haben die Kinder auf Sie als weiße Ärztin aus Deutschland reagiert?

Klein: Einmal hat nachts das Bein eines schlafenden Kindes aus einem Bett gehangen. Ich habe es zurück ins Bett gehoben. Dabei ist das Kind aufgewacht und ist schrecklich erschrocken. Es dachte, es hätte einen Geist gesehen. Sehr kleine Kinder erschrecken sich manchmal und schreien, weil ich einfach anders aussehe. Ältere haben natürlich schon Weiße gesehen und wissen, warum wir vor Ort sind. Die Menschen sind sehr interessiert und freundlich.

Das Land hat bis vor zehn Jahren einen brutalen Bürgerkrieg erlebt. Wie haben die Menschen in Sierra Leone auf die Verurteilung des Kriegsverbrechers Charles Taylor in Den Haag reagiert?

Klein: Ich habe nicht mitbekommen, dass jemand darüber geredet hätte. Allerdings habe ich im ländlichen Bereich gearbeitet. Es gibt dort keine Medienversorgung wie in Deutschland, keine Zeitung und kaum Zugang zum Internet. Allerdings muss man auch sagen: Es herrscht großes Schweigen über den Krieg im Land. Von sich aus spricht keiner mit Weißen darüber. Die Grenze zwischen Opfern und Tätern ist verschwommen, viele leben nach wie vor zusammen im gleichen Dorf.

Wie schätzen Sie die aktuelle Cholera-Epidemie ein? Die Regierung hat den Notstand ausgerufen...

Klein: Die Epidemie dieser schweren Durchfallerkrankung hat im Januar schon angefangen, als ich noch da war. Alle drei, vier Jahre gibt es eine solche Welle. Das liegt an den oft miserablen hygienischen Verhältnissen, die Regenzeit tut dann ihr Übriges. Ärzte ohne Grenzen hat schon im Januar ein spezielles Team nach Sierra Leone geholt, um die medizinischen Einrichtungen vor Ort bei der Bekämpfung der Epidemie zu unterstützen. Für die vielen Krankheitsfälle gibt es glücklicherweise relativ wenige Todesfälle. Die Epidemie ist aber sicher noch nicht vorbei.

 
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