US-Vizepräsident Joe Biden dürfte in den Gesprächen mit Premierminister Binali Yildirim und Staatschef Recep Tayyip Erdogan klar geworden sein, wie ernst es der Türkei mit der Forderung nach einer Auslieferung des in den USA lebenden Exil-Predigers Fethullah Gülen ist, den Erdogan für den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich macht. Auch wenn Gülens persönliche Rolle undurchsichtig bleibt, so mehren sich doch die Anhaltspunkte für eine Beteiligung von Gülen-Anhängern an den Putsch-Plänen.
In Washington müsste man wissen, dass Gülen nicht der sanfte Reformprediger ist, als der er sich gern darstellt. Gerade die Diplomaten der US-Botschaft in Ankara und andere US-Dienste haben in den vergangenen Jahren immer wieder dokumentiert, wie die Gülen-Bewegung die türkischen Institutionen unterwanderte – anfangs mit Unterstützung Erdogans, was die Feindschaft zwischen beiden Männern noch unerbittlicher macht.
Die Causa Gülen wird nicht nur zu einer immer größeren Belastung für das Verhältnis der Türkei zu den USA. Ein dunkler Schatten fällt auch auf die Beziehungen zu Europa. In der Türkei ist der Eindruck entstanden, als sei die Empörung des Westens über Erdogans „Säuberungen“ größer als das Entsetzen über den Putschversuch, bei dem fast 300 Menschen ihr Leben verloren. Auch die Zivilcourage der Bürger, keineswegs nur Erdogan-Anhänger, die sich unter Einsatz ihres Lebens den Panzern in den Weg stellten und damit den Umsturzversuch vereitelten, sei von den ausländischen Partnern nicht angemessen gewürdigt worden, heißt es. Die Kritik ist nicht unberechtigt.
Noch in der Putschnacht rief Kremlchef Wladimir Putin bei Erdogan an und sicherte ihm die Unterstützung Russlands zu. Jetzt sprechen Erdogan und Putin über eine militärische Zusammenarbeit. Verliert der Westen die Türkei?
Richtig ist: Für Europa und die USA ist das Land als Stabilitätsanker an der Schwelle zum chaotischen Nahen Osten jetzt wichtiger denn je. Richtig ist aber auch: Diese Rolle kann die Türkei nur wahrnehmen, wenn sie ihre demokratischen Institutionen stärkt und ihre innere Zerrissenheit überwindet. Darauf muss Staatschef Erdogan hinarbeiten. Denn nicht nur der Westen braucht die Türkei – sondern auch umgekehrt. Das gilt nicht nur für die Bewältigung der Flüchtlingskrise, sondern aktuell vor allem im Kampf gegen die IS-Terrormiliz.
Wenige Stunden vor Bidens Ankunft in Ankara startete die Türkei ihre bisher massivste Militäroffensive in der Region der nordsyrischen Grenzstadt Dscharablus, die vom IS besetzt gehalten wird. Die Operation, für die erstmals auch türkische Panzer die syrische Grenze überquerten, demonstriert, welch wichtige Rolle die Türkei in der Anti-IS-Allianz spielen kann.
Doch wenn Erdogan jetzt davon spricht, die Offensive richte sich gegen „Terrororganisationen“ jenseits der Grenze, die sein Land bedrohten, meint er damit nicht in erster Linie den IS, sondern die syrischen Kurdenmilizen – einen wichtigen Verbündeten der USA im Kampf gegen die Dschihadisten. Erdogans Strategie in der Syrienpolitik ist vor allem darauf gerichtet, die kurdischen Autonomiebestrebungen an der Grenze zur Türkei zu durchkreuzen. Der Kampf gegen den IS tritt bisher dahinter zurück. Das macht die Türkei für die USA und Europa zu einem problematischen Partner.