Der Aufschrei war groß. Als sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor wenigen Tagen für eine stärkere Präsenz der Nato an der Ostgrenze des Bündnisses aussprach und den baltischen Staaten wie Polen aktive Unterstützung signalisierte, stieß dies in der Koalition wie der Opposition auf massive Kritik. Der Vorschlag der Ministerin trage „weiter zur Eskalation bei“ und „bestätigt nur die Hardliner in Moskau“, konterte der SPD-Außenexperte Niels Annen. Und Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter nannte den Vorschlag gar „völlig unrealistisch“ und warf von der Leyen ein „durchsichtiges Profilierungsmanöver“ vor.
Dabei hatte die CDU-Ministerin weder etwas Neues noch etwas Verwegenes vorgeschlagen, sondern schlicht die Realität beschrieben: Schon seit vielen Jahren übernehmen einzelne Nato-Mitglieder für die drei baltischen Staaten die Sicherung ihres Luftraumes, auch Deutschland beteiligte sich bis 2013 am sogenannten „air policing“, war aber ausgeschieden und wollte erst ab 2018 wieder einsteigen. Nun könnte es deutlich schneller gehen. Die Bundesregierung ist bereit, bis zu sechs Flugzeuge der Bundeswehr für die Überwachung der Nato-Grenze im Baltikum zur Verfügung zu stellen, zudem ein Führungsschiff für einen Nato-Marineverband in der Ostsee.
Für Ursula von der Leyen, deren Berufung zur Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt die größte Überraschung der Kabinettsbildung vor 100 Tagen war, ist dies eine neue Erfahrung. Als Frauen- und Familien- sowie als Arbeits- und Sozialministerin war sie ein Regierungsmitglied unter vielen, deren Äußerungen mal mehr oder mal weniger Beachtung fanden. Nun aber wird jedes Wort von ihr auf die Goldwaage gelegt, weil Verteidigungspolitik einen völlig anderen Stellenwert hat, national wie international. Verteidigungspolitik ist doppelt eingebunden, sie hat eine dienende Funktion gegenüber der eigenen Außen- und Sicherheitspolitik und ist Teil des europäischen wie transatlantischen Bündnisses.
Von der Leyen hat sich rasch und professionell in ihr neues Metier eingearbeitet, mit ihrer offenen und direkten Art kommt sie bei den Soldaten an. Ihr Gestaltungsspielraum ist gleichwohl begrenzt, die von ihrem Vorgänger Thomas de Maiziere erarbeitete Neuausrichtung der Armee wird noch bis zum Ende des Jahrzehnts dauern und bei laufendem Betrieb Kräfte binden. Der Afghanistan-Einsatz läuft nach zwölf Jahren aus, was die Belastung der Einsatzkräfte reduziert, gleichwohl wird die Bundeswehr eine Armee im Einsatz bleiben. Wie von der Leyen ihr Versprechen, die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass die Bundeswehr der „attraktivste Arbeitgeber“ Deutschlands wird, einlösen will, bleibt vorerst ihr Geheimnis, zumal sie nicht mit mehr Geld rechnen kann.
Die größte Gefahr droht ihr paradoxerweise aus dem eigenen Haus, das als Haifischbecken gilt. Mit der Entlassung ihres Staatssekretärs und der Ankündigung, alle Rüstungsprojekte von externen Fachleuten überprüfen zu lassen, hat sie sich erst einmal im Ministerium Respekt verschafft und zu verstehen gegeben, dass sie mit harter Hand durchgreifen wird. Damit aber übernimmt sie auch die Verantwortung für alle zukünftigen Pannen und Skandale im Rüstungsbereich. Ursula von der Leyen ist sich des Risikos bewusst und geht es dennoch ein. Sie weiß: Wer sich im Bendlerblock durchsetzt, setzt sich überall durch.