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Leitartikel: Unabsehbare Folgen für die große Koalition
Stefan Lange (51) ist neuer Leiter des Hauptstadtbüros unserer Zeitung. Zuvor arbeitete er als Teamleiter Politik im Berliner Büro von Dow Jones Newswires und dem Wall Street Journal. Lange ist seit 2001 in Berlin und hat dort unter anderem bei verschiedenen Nachrichtenagenturen gearbeitet. Davor war der gebürtige Friese zwölf Jahre lang als Volontär und Redakteur bei einer Tageszeitung in Jever beschäftigt.
Stefan Lange
 |  aktualisiert: 27.06.2019 02:11 Uhr

Der Rückzug von Andrea Nahles hat einen politischen Erdrutsch ausgelöst, der am Ende die große Koalition unter sich begraben könnte. In der Hauptstadt hatte niemand den Rücktritt vorhergesehen. Ein solcher Schritt war zwar nicht gänzlich ausgeschlossen worden, aber dies galt nur für den Posten als SPD-Fraktionsvorsitzende. Den hatte die 48-Jährige schließlich selber zur Disposition gestellt und Neuwahlen ausgerufen. Die sollten aber erst am Dienstag stattfinden und möglicherweise wäre Nahles sogar bestätigt worden. Wenn auch nur mit einem knappen Ergebnis. Dass Nahles als Parteichefin hinschmeißt, hatten die Beobachter nicht auf dem Radar.

„Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist“, begründete Nahles ihren Schritt, der nur als unverantwortlich bezeichnet werden kann. Denn die Politik braucht gerade nichts dringender als Stabilität, und da gehört es zur Jobbeschreibung der Vorsitzenden einer Regierungspartei, dass sie dem Druck standhält. Vorausgesetzt natürlich, es waren keine rein privaten Gründe, die Nahles zum Rücktritt bewogen haben. Davon ist bislang aber nicht die Rede.

Der Rückhalt in der SPD für die Vorsitzende war noch nie groß

Die Frage ist, von welchem „Rückhalt“ Nahles da redet, der ihr nun abhandengekommen sein soll? Bereits bei ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden hatte die ehemalige Bundesarbeitsministerin im April letzten Jahres nur 66 Prozent der Stimmen bekommen. Das war eines der schlechtesten Resultate in der langen SPD-Geschichte. Wenige Wochen zuvor hatten die SPD-Delegierten Koalitionsgespräche gebilligt, aber nur mit mageren 56 Prozent Zustimmung. Eine maßgebliche Befürworterin solcher Verhandlungen war Andrea Nahles. Und jetzt hat Nahles keine Lust mehr. Mit ihrem Schritt wolle sie „die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann“, erklärte Nahles, doch das klang wie Hohn. Denn angesichts des bislang schon schlimmen Durcheinanders in ihrer Partei muss sie gewusst haben, dass sich das Chaos in der SPD vergrößert.

Alles andere als ein geordneter Rückzug

Nahles hätte drei Monate vor den wichtigen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg zumindest für einen geordneten Rückzug sorgen und Nachfolgerinnen benennen können. Hat sie aber nicht. Medienberichten zufolge soll Parteivize Malu Dreyer übergangsweise das Ruder in die Hand nehmen. Eine Dauerlösung dürfte das aber nicht sein, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin hat schon bei früheren Gelegenheiten durchblicken lassen, dass sie nicht nach Berlin will.

Nahles‘ Rücktritt wirkt sich auch auf den Koalitionspartner aus. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer könnte sich besser auf ihre Aufgaben konzentrieren, wenn es nicht ständig Störfeuer von der SPD gäbe. Deutlich sichtbar wird der interne Stress dieser Tage in Bayern, wo sich CSU und SPD wie die Kesselflicker über die große Koalition in Berlin streiten.

Nahles schwächt zudem die deutsche Position bei den Verhandlungen über die Verteilung der EU-Spitzenposten. Kanzlerin Angela Merkel muss mit der Bürde nach Brüssel reisen, dass Deutschland zurzeit nur eine instabile Regierungskoalition vorweisen kann.

Schließlich dürfte das ohnehin schon schlechte Ansehen der Politik und vor allem der Regierungsparteien Union und SPD noch weiter gelitten haben. Wer Politik von außen betrachtet, der lernt von Nahles: Wenn es mir zu viel wird, schmeiße ich hin. Eine Haltung ist das, die sich viele Wählerinnen und Wähler in ihrem Berufsleben nicht leisten könnten.

 
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