Die neue britische Premierministerin Theresa May dürfte selbst äußerst überrascht sein. Noch vor drei Wochen sah die Welt im Königreich ganz anders aus. Die meisten Briten gingen selbst Tage vor dem Referendum davon aus, dass sie Mitglied in der EU bleiben würden. David Cameron war Premierminister, und Schatzkanzler George Osborne galt als der designierte Kronprinz, der 2019 hätte übernehmen sollen – ein Jahr vor der nächsten Parlamentswahl. Nur Boris Johnson, der schrille Ex-Bürgermeister Londons und lautstarke Brexit-Befürworter, hätte Osborne in seinen Karriere-Ambitionen gefährlich werden können.
Die im Hintergrund agierende Theresa May wurde kaum als mögliche Nachfolgerin des Premierministers erwähnt. May fiel mehr durch Fleißarbeit und Krisenmanagement auf als durch Charisma und Visionen.
Dann folgten Tage des Tumults, in denen statt der Konservativen das Chaos regierte. Erst das Brexit-Votum, dann der Rücktritt von David Cameron, woraufhin fiese Intrigen das Buhlen um die Nachfolge dominierten. Am Ende dieses Dramas waren die Protagonisten der Brexit–Kampagne, Boris Johnson, Michael Gove und Andrea Leadsom, allesamt verschwunden. Eine Politikerin aber blieb bis zuletzt auf der Bühne: Theresa May und damit ausgerechnet eine Frau, die sich für einen Verbleib in der EU eingesetzt hatte. Sie hat Ruhe bewahrt.
Gleichwohl weiß sie, dass das drängendste Problem keineswegs Brüssel darstellte, sondern dass die Gemeinschaft nur als Sündenbock für hausgemachte Schwierigkeiten herhalten musste. May scheint nach dem Brexit-Votum die Botschaft zahlreicher Wähler verstanden zu haben, die es leid sind, vom Polit-Establishment im Stich gelassen zu werden. Die Protestler haben für den EU-Ausstieg gestimmt, weil sie London eins auswischen wollten. Dabei trafen sie leider Brüssel, und schlussendlich werden sie selbst die Leidtragenden sein.
May kündigte in dieser Woche an, die soziale Ungleichheit bekämpfen zu wollen. Ihre Worte klangen mehr nach Labour als nach Tories, Hoffnung machten sie allemal. Denn der Zustand des Königreichs ist miserabel. Die Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht gespalten, der Wirtschaft stehen ungewisse Zeiten bevor, die EU macht zurecht Druck, um die derzeitige Hängepartie zu beenden, der Einfluss auf der Weltbühne droht zu sinken. May hat die schwere Aufgabe, die Weichen für die Zukunft Großbritanniens zu stellen.
Doch zieht mit ihr eine Frau in die Downing Street ein, die Konflikte nicht scheut und Hartnäckigkeit bewiesen hat. Das wird auch die EU zu spüren bekommen. In Brüssel heißt es zurzeit noch, dass es ohne Personenfreizügigkeit keinen Zugang zum Binnenmarkt gebe. Doch zahlreiche Briten fordern einen Sonderweg, indem das Land seine Grenzen kontrollieren und gleichzeitig weiter Waren und Dienstleistungen in die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten zollfrei einführen kann. Es ist zu hoffen, dass die bislang einig auftretende EU standhaft bleibt und den Briten keine Ausnahmen einräumt.
May muss jetzt jenen 52 Prozent der Wähler, die für den EU-Ausstieg gestimmt haben, entgegenkommen und für ein Gleichgewicht in ihrem Kabinett sorgen. Das könnte so weit gehen, dass Boris Johnson oder sogar Michael Gove mit Ministerposten bedacht werden. Das Politik-Geschäft ist oft sehr schmutzig, das haben vor allem die letzten Wochen auf verstörende Art bewiesen.