Selbst der sonst so zurückhaltende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der als Außenminister viel Erfahrung im Umgang mit schwierigen Verhandlungspartnern gesammelt hat, verliert allmählich die Geduld. Bei den traditionellen Neujahrsempfängen für verdiente Bürger und Repräsentanten des öffentlichen Lebens wie für das diplomatische Korps, appellierte das Staatsoberhaupt in diesen Tagen mit ungewöhnlich deutlichen Worten an die Parteien, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und den Schwebezustand zu beenden.
Deutschland braucht eine Regierung. Nicht nur eine, die geschäftsführend auf kleinstmöglicher Flamme das Land verwaltet und ansonsten die Dinge ruhen lässt, sondern eine, die sich auf eine stabile Mehrheit im Parlament stützt und kraftvoll die anstehenden Probleme anpackt. Natürlich, eine gewisse Zeit kann ein ökonomisch gesundes und prosperierendes Land wie Deutschland auch ohne eine gewählte Regierung auskommen, der Laden läuft auch von alleine weiter. Und doch darf diese Hängepartie nicht ewig dauern. In Deutschland müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden, Europa steht vor bedeutsamen Weichenstellungen und die Welt mit ihren zahllosen Konfliktherden nimmt erst recht keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten deutscher Parteien.
Merkel und Schulz als Gefangene der selbstgeschaffenen Strukturen
Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz wissen das ganz genau – und sind doch gleichzeitig Gefangene der selbstgeschaffenen Strukturen und selbstauferlegten Zwänge. Allen dreien haftet der Makel eines Wahlverlierers an, alle drei gelten in ihren Parteien als Auslaufmodelle, deren Zeit abgelaufen ist. Um ihre zutiefst verunsicherten und nach personeller wie programmatischer Erneuerung lechzenden Parteien auf dem dornigen Weg in eine Neuauflage der ungeliebten Großen Koalition mitzunehmen, müssen sie bereits in den Sondierungen ein Maximum an eigener Programmatik durchsetzen. Die Drohung, ohne vorzeigbaren Erfolge drohe ein Scheitern auf einem Parteitag, überlastet schon von Anbeginn an die Verhandlungen und erschwert eine Einigung.
Die Parteien wollen zu viel – und erreichen damit das Gegenteil
Es ist offensichtlich: Die Parteien wollen zu viel – und erreichen damit das Gegenteil. Schon die Jamaika-Sondierungen scheiterten im Endeffekt daran, dass CDU, CSU, FDP und Grüne sich nicht auf das Wesentliche und Notwendige konzentrierten und die Kompromisslinien in den fünf, sechs zentralen Fragen suchten, sondern stattdessen in zahllosen Einzelthemen schon die Details eines möglichen Gesetzgebungsverfahrens regeln wollten. Das aber ist nicht die Aufgabe von Sondierungen, sondern im Anschluss daran der Job der Abgeordneten. Es reicht ein Rahmen, dem sich die Koalitionäre verpflichtet fühlen, alles andere kann immer noch in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren geregelt werden.
Ohnehin sind die Erwartungen, die mittlerweile an Koalitionsverträge gestellt werden, zu hoch. Niemand kann vorhersagen, was in den kommenden vier Jahren passieren wird. Regieren heißt immer, auf neue Entwicklungen zu reagieren und auf die jeweils gestellten Fragen Antworten zu finden. Die erste Große Koalition wurde von der Euro- und der darauf folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise überrascht, die zweite von der Flüchtlingskrise.
In den Koalitionsverträgen spielten diese Themen keine Rolle, hinterher nahmen sie zeitweise das gesamte Regierungshandeln in Anspruch.
Weniger ist mehr. Was seit der Bundestagswahl vor 109 Tagen geschehen ist, sollte allen Parteien als Warnung dienen: Das darf sich nicht wiederholen. Ohnehin ist der Koalitionsvertrag das am meisten überschätzte Papier in der Politik. Am Ende der Legislaturperiode urteilt der Wähler nicht darüber, wer was in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt hat, sondern wie regiert worden ist.