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Leitartikel Ohne Ehrenamtliche wäre unsere Gesellschaft kälter
Michael Reinhard
Michael Reinhard
 |  aktualisiert: 02.04.2019 13:54 Uhr

Sie helfen, wo der Staat sich zurückzieht. Sie packen mit an, wo es Not zu lindern gilt. Schätzungsweise 23 Millionen Menschen setzen sich in Deutschland freiwillig für ihr Gemeinwesen ein. Ohne diese Millionen von ehrenamtlichen Helfern könnten viele karitative und gesellschaftspolitische Aufgaben nicht verwirklicht werden. Dem evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ist deshalb uneingeschränkt beizupflichten, wenn er feststellt: „Wir wären nichts ohne das Ehrenamt.“ Bürgerschaftliches Engagement sei „das Grundgesetz in der praktischen Umsetzung“, adelte er Ehrenamtliche kürzlich im Gespräch mit dieser Redaktion. Doch die Medaille der sogenannten freiwilligen Verantwortungsübernahme hat auch eine andere Seite: den Abbau staatlicher Angebote.

Ehrenamtlich engagierte Bürger sind fast überall anzutreffen. Sie arbeiten in Kitas, Kleiderkammern und Schulen. Sie kümmern sich um Alte und Kranke, betreuen Flüchtlinge, sind das Rückgrat von Rettungsdiensten und halten das Vereinsleben am Laufen – unbezahlt.

Bayern hat das Ehrenamt sogar als Staatsziel in der Verfassung

In Bayern sind es nahezu 40 Prozent der ab 14-Jährigen, die auf diese Weise in ihrer Freizeit Gutes tun – das sind rund 3,8 Millionen Bürger. Seit Januar 2014 ist die Förderung des Ehrenamtes sogar als Staatsziel in der Bayerischen Verfassung festgeschrieben. Regelmäßig werden besonders Engagierte mit der Bayerischen Ehrenamtskarte ausgezeichnet.

Auch diese Redaktion würdigt seit 16 Jahren Bürger aus der Region, die sich auf vorbildliche Weise um ihre Mitmenschen kümmern. Genau 254 Initiativen haben wir im Rahmen der Aktion „Zeichen setzen!“ bislang vorgestellt und etwa 60 von ihnen mit Geldpreisen bedacht. Diese uneigennützigen Menschen machen nicht nur ihr eigenes Leben lebenswerter, sondern dienen gleichfalls als Vorbild. Doch bei allem Einsatz für das Gemeinwohl – eines wollen die Millionen Freiwilligen nicht sein: Ausputzer für staatliche Versäumnisse. Der Berliner Soziologe Wolfgang Engler hat herausgefunden, dass die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu betätigen, mit dem Rückzug des Staates aus der Verantwortung eher abnimmt. „Wo der Staat sozial abrüstet, abdankt, entfremden sich die Menschen voneinander, schläft ihr sozialer Sinn unwiderruflich ein.“

Die Löcher im sozialen Netz werden immer größer

Diese Gefahr ist auf kommunaler Ebene besonders groß. Denn dort wird verstärkt auf Bürgerunterstützung gesetzt. Deshalb ist es wichtig, genau hinzuschauen und zu fragen: Welche Strukturen und Leistungen sollten Staat und Kommunen unabhängig von Freiwilligenarbeit garantieren? Und: Wo werden reguläre Arbeitsplätze durch den Einsatz von Ehrenamtlichen eingespart?

Es reicht vielen Hilfsbereiten längst nicht mehr, wenn in Rathäusern achselzuckend darauf hingewiesen wird, dass die öffentlichen Kassen leer sind, der Staat nicht alles leisten kann und demzufolge alle mit anpacken müssen. Die Gründe, weshalb Kommunen klamm sind, die Löcher im sozialen Netz größer werden und der Bildungssektor unterfinanziert ist, werden gerne verschwiegen.

Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Claudia Pinl verweist beispielhaft auf die Steuergesetzgebung: Sie habe dazu geführt, dass Reiche immer reicher wurden, während der Staat verarmt sei. „Große Teile der Infrastruktur, einschließlich Soziales und Bildungssektor, wurden vernachlässigt.“ Auch die Politik der Privatisierung und Deregulierung des Arbeitsmarkts habe die Anzahl Bedürftiger hochschnellen lassen. Claudia Pinl kritisiert zu Recht: „Die wichtige Ressource Engagement wird missbraucht, wenn sie dazu dient, die Löcher in den Etats der öffentlichen Daseinsvorsorge zu stopfen und Mängel lediglich zu verwalten, statt sie zu beheben.“ Diese Vorgehensweise ist der sicherste Weg, bürgerschaftlich Engagierte zu vergraulen.

 
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