Aus der Vogelperspektive betrachtet ist die Situation in Libyen gar nicht so kompliziert. In der Hauptstadt Tripolis sitzt die von Fajis al-Sarradasch angeführte, von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung. Im Westen und Süden des Landes hat der frühere Vertraute des Diktators Muammar al-Gaddafi, General Khalifa Haftar, seine Machtbasis. Jetzt ziehen die Truppen des 75-Jährigen in den Kampf um Tripolis.
Doch es ist wie bei einem Ameisenhaufen. Erst aus der Nähe sieht man das wilde Gewusel. Ameisen bewegen sich allerdings nach einem festen Plan. In Libyen hingegen haben auch Experten längst die Übersicht verloren, wer gerade mit welcher Miliz verbündet ist. Keinen Zweifel gibt es darüber, dass ein neuer blutiger Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land droht, wenn die Schlacht um Tripolis nicht im letzten Augenblick doch noch gestoppt werden kann.
Noch immer wird darüber gestritten, wie Libyen heute aussehen würde, wenn die Nato 2011 nicht zum Sturz von Gaddafi, den der Westen über Jahre hofiert hat, entscheidend beigetragen hätte. Sicher ist, dass es ein fataler Fehler war, sich nach dem Ende des Regimes aus der Verantwortung zu stehlen und zuzusehen, wie das Land im Chaos versinkt.
Alte Gegensätze brachen wieder auf
Ohne zentrale Autorität, ohne Gesetze besannen sich die Libyer auf eine Struktur, die hunderte von Jahre alt ist: die Stammesordnung. Die Fliehkräfte, die Gaddafi nur mit Unterdrückung und skrupellosen Geheimdiensten bändigen konnte, entfalteten sich. Nach 2011 brachen alte Gegensätze wieder auf, wurden offene Rechnungen zwischen den Stämmen beglichen. Die einst mächtige Terrormiliz IS, die zuletzt auch in Libyen an Boden verloren hatte, könnte wieder erstarken.
Parallel dazu versuchen ausländische Mächte mit Waffen und militärischen Beratern Einfluss auf die Kriegsparteien auszuüben. Nicht zuletzt, weil unter libyschem Wüstensand noch jede Menge Öl liegt.
General Haftar wird massiv von Ägypten und Russland unterstützt. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, wenn man weiß, dass der Warlord lange als Werkzeug des CIA und als antiislamistischer Hoffnungsträger des Westens galt. Haftar ist nur ein Beispiel dafür, dass die Suche nach leicht kontrollierbaren Handlangern ein Vabanquespiel ist. Auf diese Weise verkommt Politik zu einer perfiden Lotterie – nur dass die Libyer den höchsten Einsatz zahlen. So, wie es auch schon in Syrien war.
In Europa interessiert nur die Flüchtlingsfrage
Wenn sich die USA aus einem Konflikt zurückziehen, ist meist Russland nicht weit, um in die Lücke zu stoßen. So ist es jetzt wieder in Libyen. Der frühere US-Präsident Barack Obama nannte es 2016 den größten Fehler seiner Amtszeit, dass er nach dem Sturz Gaddafis nicht für stabile Verhältnisse in dem Krisenstaat gesorgt habe.
In Europa wurde zuletzt öffentlich nur dann von Libyen Notiz genommen, wenn es darum ging, ob und wie Flüchtlinge daran gehindert werden, von der Küste des Landes gen Norden abzulegen. Was auf Europa zukommen könnte, wenn aus den Scharmützeln wieder ein Bürgerkrieg wird, ist unabsehbar.
Seit Jahresbeginn ist Haftar auf dem Vormarsch, im Süden nahm er große Ölfelder und zwei Städte in seinen Besitz. Die Weltöffentlichkeit registrierte kaum, dass das fragile Gleichgewicht der Kräfte zu kippen begann. Im Gegenteil: UN-Generalsekretär Antonio Guterres sprach angesichts von bevorstehenden Verhandlungen über Wahlen in Libyen von einem „Moment der Hoffnung“. Doch nur wenige Tage später steht Libyen da, wo es schon so oft stand: am Abgrund.