Deutschland spricht über Andreas Kümmert. Etwas Besseres kann einem Künstler nicht passieren? Denkste. Man möchte nicht in der Haut des 28-Jährigen stecken, nachdem er bekannt hat, die Aufgabe, Deutschland beim Eurovision Song Contest in Wien zu vertreten, sei für ihn eine Nummer zu groß. Kümmert ist zu wünschen, dass er in seiner Umgebung Freunde hat, die ihn schützen. So unprofessionell sein weitgehender Medienboykott im Vorfeld des Vorentscheids war, so wichtig ist nun, dass er erst einmal abtauchen kann.
Das öffentliche Mitleid wird sich in Grenzen halten. Wer bei einer Show wie dem ESC antritt, muss wissen, was auf ihn zukommen kann, sagen jetzt viele, die das Nein als Verrat an den Fans empfinden. Ihnen sei zugerufen, doch bitte den Ball flach zu halten, es geht nur um einen Sangeswettstreit. Das gilt genauso für jene, die den Gemündener jetzt als ehrlichen Kämpfer wider die ach so böse Musikindustrie feiern.
Nein, Andreas Kümmert zu unterstellen, er habe den Eklat geplant, er habe von Anfang an gewusst, dass er nie nach Wien fahren würde, das geht zu weit. So leidenschaftlich, so hingebungsvoll, wie er seine beiden Titel präsentiert hat, kann keiner singen, der im Hinterkopf schon das Ausstiegsszenario hat. Der Entschluss, die Reißleine zu ziehen, muss kurzfristig gewachsen sein, als ihm hinter der Bühne klar wurde, was da bei einem Spektakel mit weltweit über 150 Millionen TV-Zuschauern auf ihn zukommt.
Klar, der Gemündener hatte die Erfahrung von „The Voice of Germany“. Schon nach dem Erfolg in der Castingshow hat er gefremdelt mit der Glitzerwelt, mit den Anforderungen, die das Musik-Business an seine Helden stellt. Und es schien ein Ballast von ihm gefallen zu sein, als er die Episode aus seinem Lebenslauf auf der Homepage einfach strich und in den Kneipen der Region wieder auftrat wie früher. Doch das Streben nach Anerkennung über die kleinen Bühnen hinaus übermannte ihn wieder. Nach allem, was wir wissen, wollte er selbst unbedingt beim ESC singen. Niemand hat ihn gezwungen. Wie so viele Künstler will er von möglichst vielen geliebt werden, tut sich aber schwer, sich dies auch offen einzugestehen.
Einer wie Kümmert, jung, sensibel und manchmal auch labil, bedarf der Hilfestellung. Vielleicht hätte man beim Universal-Konzern aufmerksamer hinschauen müssen, den Sänger noch besser auf das Event einstellen müssen, als das mutmaßlich schon geschehen ist. Vielleicht hätte auch die ARD bereits vor dem Auftritt am Donnerstag die Reißleine ziehen können, etwa als Kümmert am Mittwoch bei den Proben und der Pressekonferenz fehlte. Die fiebrige Erkältung hätte die Chance für den sanften Rückzug geboten. Aber hinterher sind immer alle schlauer.
Die ARD muss derweil nicht traurig sein. Der ESC ist über Nacht im Gespräch wie selten. Die schwache TV-Quote mit 3,2 Millionen Zuschauern wird nächstes Jahr wieder steigen. Alle, die heuer nicht zugeschaut haben, haben eine denkwürdige Livesendung verpasst. Wie Barbara Schöneberger den Eklat wegmoderiert hat, wie sie die Entscheidung von Kümmert zu Ann Sophie herbeigeführt hat, das war große Klasse. Überhaupt Ann Sophie. Die 24-Jährige, über die vor lauter Kümmert bislang noch kaum jemand spricht, hat die richtigen Worte über ihren Mitbewerber gefunden: „Ich finde Andreas mega-mutig, weil er auf sein Herz gehört hat.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.