Wie es aussieht, wenn die Macht zu erodieren beginnt, hat Angela Merkel schon einmal miterlebt. 1994 war Helmut Kohl seit zwölf Jahren Kanzler und sie selbst Ministerin für Frauen und Jugend in seinem Kabinett. Kohls Flüchtlingskrise waren damals die Kosten der Einheit, die ihm über den Kopf zu wachsen drohten – trotzdem rettete er sich bei der Wahl im Oktober noch einmal ins Ziel. Rudolf Scharping, der Herausforderer der SPD, war zu schwach, um einen Wechsel zu erzwingen. Heute weiß man, dass Kohls letzter Triumph auch der Beginn einer langen Kanzlerdämmerung war. Ein Mann, der seinen Zenit schon überschritten hatte, regierte ein Land, das im Reformstau stecken geblieben war.
Angela Merkel ist jetzt ebenfalls seit zwölf Jahren Kanzlerin und in einer ungleich schwierigeren Lage als ihr einstiger Mentor Kohl vor seiner vierten und letzten Amtsperiode. Der konnte die Koalition mit den Liberalen 1994 problemlos fortsetzen, sie dagegen kann sich noch nicht einmal sicher sein, ob sie überhaupt ein funktionierendes Regierungsbündnis zustande bringt.
Auch in der CDU grummelt es immer lauter
Um die Grünen und die FDP in eine Jamaika-Koalition zu holen, wird sie in den Verhandlungen große Zugeständnisse machen müssen, die CSU will die Union insgesamt deutlich weiter rechts verorten und auch in ihrer eigenen Partei, der CDU, grummelt es immer lauter. Der Dämpfer, den die Bundestagsabgeordneten der Union dem Merkel-Intimus Volker Kauder bei seiner Wiederwahl als Fraktionsvorsitzenden gerade verpasst haben, galt indirekt ja auch ihr.
Mehr als zehn Prozentpunkte hat die CSU bei der Bundestagswahl verloren, mehr als sieben die CDU: Unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, würde eine Kanzlerin, deren Koalition so krachend abgewählt wurde, jetzt um ihr Amt zittern oder es sogar von sich aus zur Verfügung stellen. Angela Merkel aber hat sich in der Union auf eine Weise alternativlos gemacht, dass in den beiden Parteien selbst jetzt niemand die K-Frage stellt. Helmut Kohl hätte aus dem Stand an Wolfgang Schäuble übergeben können. In der CDU von heute kommt zunächst einmal Angela Merkel – und dann lange nichts.
Mit ihrer Bemerkung, sie könne nicht erkennen, was sie künftig anders machen müsse, hat die Kanzlerin am Wahlabend allerdings auch viele ihrer treuesten Anhänger verstört. Wann, wenn nicht nach einer solchen Schlappe, muss eine Partei ihre Politik kritisch hinterfragen?
Standortbestimmung unumgänglich
War ihr Kurs in der Flüchtlingspolitik zu liberal? Hat ihr Generalsekretär Peter Tauber mit seinem postmodernen Internetwahlkampf die falsche Zielgruppe angesprochen? Hat die Kanzlerin ihren Amtsbonus überschätzt? Und, vor allem: Wofür steht eine Partei wie die CDU heute noch, die mit der Ehe für alle und dem Abschied von der Wehrpflicht und der Atomkraft praktisch alle konservativen Positionen geräumt hat? Diese Standortbestimmung kann die CDU Angela Merkel nicht ersparen. Dazu war die Niederlage viel zu schmerzhaft und dazu ist auch die Flanke auf der rechten Seite viel zu offen.
Noch sitzt sie fest im Sattel, als Regierungschefin wie als Parteivorsitzende. In dem Moment jedoch, in dem das Projekt Jamaika scheitert, könnte auch Angela Merkels Kanzlerschaft jäh zu Ende sein. Um Neuwahlen und ein weiteres Erstarken der AfD zu vermeiden, müsste sie dann noch einmal mit den Sozialdemokraten reden. Die allerdings werden sich, wenn überhaupt, nur in eine Neuauflage der Großen Koalition locken lassen, wenn sie dafür auch etwas Großes bekommen – zum Beispiel Merkels Demission als Kanzlerin.
Vor allem deshalb ist die Jamaika-Koalition für Angela Merkel alternativlos. Koste es, was es wolle.