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Leitartikel: Frühlingsgefühle im Osten?
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 23.12.2015 12:09 Uhr

Wird der Maidan der Tahrir-Platz des Ostens? Auf den ersten Blick lassen sich Parallelen zwischen den Ereignissen, die sich auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew abspielen und den Demonstrationen in Kairo zu Beginn des Arabischen Frühlings erkennen. Wie in der arabischen Welt sind es in der Ukraine derzeit vor allem junge Menschen, die für einen Westkurs und mehr Freiheit auf die Straße gehen. Dass auch die Osteuropäer Revolution können, zeigen die Jahre 1989 bis 1991, als im Ostblock die kommunistischen Regime zusammenbrachen. Generell wäre die Region eigentlich prädestiniert für einen Umschwung.

Bis heute herrschen in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken alles andere als demokratische Verhältnisse: Aserbaidschan etwa gilt als autoritäres Regime und wurde zuletzt im Vorfeld des Eurovision Song Contests in der Hauptstadt Baku für seine schlechte Menschenrechtssituation kritisiert. Eine andere Ex-Sowjetrepublik, Weißrussland, gilt gar als letzte Diktatur Europas. Seit 1994 herrscht Alexander Lukaschenko. Keine der letzten Wahlen erfüllte die OSZE-Standards.

Aktuell erlebt zudem ein direktes Nachbarland der Ukraine eine Regierungskrise: In Ungarn droht derzeit nichts weniger als die Entmachtung des Parlaments. Schon in der jüngeren Vergangenheit gingen Zehntausende gegen eine Verfassungsänderung auf die Straße, die Kritiker als „Frontalangriff auf rechtsstaatliche Prinzipien“ und „Ende der Gewaltenteilung“ bezeichneten. Bereits Ende 2010 hatten Studenten über Facebook in Budapest eine Protestaktion gegen ein Gesetz organisiert, das die Zensur der Medien ausweitete.

Doch es bestehen wesentliche Unterschiede zu den Ereignissen in der arabischen Welt: Während sich dort die Proteste gegen Diktatoren richteten, hat zumindest die ukrainische Regierung kein Legitimitätsproblem: Sie wurde – wenigstens formal – demokratisch gewählt. Die Demonstrationen entzündeten sich auch nicht in erster Linie an sozialer Unzufriedenheit, sondern an der außenpolitischen Entscheidung, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen.

In Aserbaidschan gab es unterdessen nie die Absicht, ein Assoziierungsabkommen mit den Europäern zu schließen, obwohl die EU der wichtigste Handelspartner der Erdöl- und Erdgasindustrie des Landes ist. Auch dank der „Petro-Euros“ sitzt das Alijew-Regime fest im Sattel.

In Weißrussland kam es nach den Wahlen 2010 zu Protestbewegungen, die aber niedergeschlagen wurden, Oppositionsführer wurden verhaftet. Anfang 2011 antwortete die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in einem Interview auf die Frage, ob Weißrussland vor einer Revolution stünde: „Wir sind nicht das Volk dafür.“ Die Menschen würden sich mit Lukaschenko arrangieren, wissend, dass er nicht ohne Blutvergießen abtreten würde.

Auch ein Überschwappen der ukrainischen Proteste etwa ins benachbarte Ungarn ist nicht zu erwarten. Jedenfalls für den Moment nicht. Die Forderung der Ukrainer, sich stärker Richtung Westen zu orientieren, wäre auf Ungarn ohnehin nicht übertragbar: Das Land ist seit 2004 EU-Mitglied.

Verschärfen könnte sich die Lage allerdings im kommenden Jahr, wenn in Ungarn Parlamentswahlen anstehen. Dennoch bleibt festzuhalten: Der Maidan ist nicht der Tahrir, und Kiew ist nicht Kairo.

 
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