Was für ein Ergebnis! Der Erfolg des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu für das Bürgermeisteramt in Istanbul, diesmal mit rund 777 000 Stimmen Vorsprung statt 13 000 im ersten Durchgang, ist ein Sieg für die geschundene türkische Demokratie. Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat in den vergangenen Jahren die Gewaltenteilung ausgehöhlt, das Parlament entmachtet, die Justiz gegängelt und die Medien gleichgeschaltet.
Als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion genießt er eine Machtfülle wie kein anderer türkischer Politiker seit dem Staatsgründer Atatürk. Er schickte mit Ex-Premier Binali Yildirim einen Vertrauten ins Rennen um das Rathaus am Bosporus, stilisierte die Kommunalwahl zur „Überlebensfrage“. Bei der Wahl unterlag dann zwar der Kandidat Yildirim, aber der eigentliche Verlierer heißt Erdogan. Die Wähler haben dem allmächtigen Präsidenten seine Grenzen aufgezeigt.
Der bisher als unschlagbar geltende Staatschef ist angezählt
Das Wahlergebnis markiert zwar nicht das Ende des Systems Erdogan. Aber der bisher als unschlagbar geltende Staatschef ist angezählt. Zwei Reaktionen sind denkbar. Erdogan könnte auf die Opposition zugehen und einen gesellschaftlichen Konsens suchen, so wie er es Anfang der 2000er Jahre tat. Oder er versucht, weiter zu polarisieren, um seine Macht zu zementieren.
Theoretisch kann Erdogan, gestützt auf die außerordentlichen Vollmachten seiner Präsidialverfassung, weiterregieren wie bisher. Er könnte sogar dem neuen Istanbuler Bürgermeister den Geldhahn zudrehen. Auch Erdogans Drohung aus dem Wahlkampf, Imamoglu wegen Beleidigung eines Provinzgouverneurs vor Gericht zu stellen und seines Amtes zu entheben, steht weiter im Raum. Doch selbst wenn er jetzt alle Register zieht, um seine Macht zu verteidigen, ist doch nach dieser Wahl nichts wie vorher.
Was, wenn sich der Trend der Kommunalwahlen, bei denen die regierende AKP vier der fünf größten Städte verlor, bei der Präsidenten- und Parlamentswahl 2023 fortsetzt? Schon wird spekuliert, ob dann Imamoglu gegen Erdogan antritt. Er könnte Erdogan durchaus gefährlich werden.
Auch in der Regierungspartei rumort es: Erdogan-Kritiker in der AKP wie der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan und Ex-Premier Ahmet Davutoglu schmieden Pläne für eine neue Partei. Die Istanbuler Bürgermeisterwahl bringt also Bewegung in die bisher ganz von Erdogan dominierte türkische Politik.
Die Opposition braucht eine europäische Perspektive
Das Wahlergebnis zeigt, wie wichtig es ist, dass Europa die Türkei nicht abschreibt. Sicher: Der Status des Landes als offizieller Beitrittskandidat ist längst zur Farce geworden. Aber es wäre aus Sicht der EU falsch, die Brücken zu Ankara ganz abzubrechen. Dazu ist die Türkei für die Sicherheits- und Flüchtlingspolitik Europas, aber auch als Handelspartner und Investitionsstandort zu wichtig. Wenn aus der Wahl in Istanbul eine Wende für die Türkei werden soll, dann brauchen die türkischen Oppositionellen jetzt mehr denn je eine europäische Perspektive.
Unter welch großem persönlichen Einsatz sie für eine demokratische, weltoffene Türkei kämpfen, zeigt der gerade begonnene Prozess gegen den Philanthropen Osman Kavala, den Journalisten Can Dündar und 14 weitere Bürgerrechtler. Sie werden beschuldigt, vor sechs Jahren die Demonstrationen im Istanbuler Gezi-Park angezettelt zu haben, aus denen eine landesweite Protestwelle gegen Erdogan wurde. Dafür sollen sie lebenslang hinter Gitter. Die Anklage zeigt, wie dringend die Zivilgesellschaft in der Türkei die Solidarität Europas braucht.