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HANNOVER
Leitartikel: Es ist höchste Zeit für eine digitale Aufholjagd
Von Jürgen Marks red.politik@mainpost.de
 |  aktualisiert: 17.04.2017 03:37 Uhr

Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino schreibt seine Bücher wie vor 50 Jahren. Er tippt das Manuskript auf einer alten Schreibmaschine. Er freue sich, so bekannte er erst kürzlich, dass die Maschine schweigt, wenn man nicht auf ihr schreibe. Kein fiepender Elektro-Sound, keine Abhängigkeiten vom Computer. Der 74-Jährige pflegt das Image des Digital-Verweigerers. Dafür erhält er oft Zustimmung.

Zu oft. Denn bei der Digitalisierung gehört Deutschland nicht zur Weltspitze. Im Ranking dümpeln wir irgendwo im Mittelfeld. Vorne stürmen die innovationsfreudigen Amerikaner, dahinter kopieren fleißige Asiaten alle brauchbaren Ideen. In Skandinavien brummt die Start-up-Kultur. Wie in den Benelux-Staaten gibt es dort überall schnelles Breitband-Internet.

In Deutschland ist so etwas wie digitale Aufbruchstimmung nicht zu spüren. Auch nicht in Hannover, wo dieser Tage die Cebit läuft. Viele Zeitungen schreiben noch immer: Computermesse Cebit. Dieser Beiname stammt aus der Zeit, als die Wilhelmshavener Olympiawerke dort, auf der „Computermesse“, ihre neuen elektronischen Schreibmaschinen vorstellten. Das Publikum staunte. Damals.

Die Cebit ist nicht gerade der Hort neuester Ideen

Heute pilgern Trendsetter im März lieber nach Austin im US-Staat Texas, wo die digitale Leitmesse SXSW (South by Southwest) stattfindet. Die Smartphone-Nabelschau MWC (Mobile World Congress) im spanischen Barcelona ist dann gerade beendet. Und die Cebit? Hier gibt es zwar heute mehr als Computer, aber so wenig neue Ideen wie auf der ebenfalls angestaubten Berliner Ifa.

Es ist haarsträubend, wie Politik und Wirtschaftseliten akzeptieren, dass wir nur in der zweiten Internet-Liga spielen. Noch im 20. Jahrhundert galt Deutschland als Land der Ingenieure und Tüftler. Rudolf Diesel erfand hier den Selbstzünder und Konrad Zuse den Computer. Das waren Schlüsseltechnologien des 20. Jahrhunderts.

Die Basisinnovation unserer Zeit ist die Digitalisierung. Fast alle neuen Geschäftsmodelle haben einen digitalen Kern. Doch es dominieren kalifornische Giganten wie Google, Facebook, Amazon und Apple. Keine deutsche Firma spielt in diesem Konzert mit. Und unsere Daten, die Währung der Zukunft, lagern auf amerikanischen Servern.

Es ist schwer zu verstehen, warum es so wenig digitalen Gründergeist gibt zwischen Kiel und Oberstdorf. Als wäre es Teufelszeug, grassieren Angst und Verzagtheit. Oft heißt es, die Digitalisierung koste nur Jobs, weil Roboter die Arbeiter ersetzen. Sie bedroht den Einzelhandel, weil Menschen online kaufen. Sparkassen und Banken sperren Filialen zu, weil Geldgeschäfte im Internet komfortabler zu verrichten sind.

Der digitale Wandel wird noch an Tempo zulegen

Das alles ist nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch ist der digitale Wandel unumkehrbar. Er wird sogar an Tempo zulegen. Es wäre also fatal, wenn wir nicht beginnen, den Rückstand aufzuholen. Chancen gibt es noch immer.

Die deutsche Wirtschaft wäre beispielsweise gut beraten, rasch, mutig und entschlossen das anzupacken, was man Industrie 4.0 nennt. Diese digitale Vernetzung und Steuerung der Produktionssysteme könnte die nächste Schlüsseltechnologie sein. Vielleicht erkennt auch die Bundesregierung endlich die Notwendigkeit, die deutsche Start-up-Szene zu befeuern. Die Gründung eines Internetministeriums könnte ein Signal dafür sein, dass sich da etwas tut.

Kanzlerin Angela Merkel ist jedoch bislang nicht unbedingt durch digitalen Ehrgeiz aufgefallen. „Neuland“ nannte sie noch vor vier Jahren das Internet. Immerhin schreibt sie gerne SMS. Dem Handy kann sich offenbar auch Schrift-steller Wilhelm Genazino nicht ganz entziehen. Nach seiner Tirade gegen das digitale Schreiben wurde er nämlich mit einem Smartphone gesehen.

 
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