Man stelle sich vor, was heute los wäre, wenn sich Politiker auf offener Bühne so angingen, wie es einst Franz Josef Strauß und Herbert Wehner taten. In all dem folgenden Getöse würde wohl kein Wort mehr darüber verloren, worüber die beiden in der Sache eigentlich gestritten haben. Und wie wäre es, wenn sich ein neues Kabinett wie einst für eine ganze Woche komplett zurückzöge, um sich über die Grundlinien der Regierungsarbeit zu verständigen? Würde sich da nicht ein Vakuum via Twitter auszubreiten drohen, das letztlich die ganze Berliner Republik in nichts auflösen könnte?
Ein Epochenbruch zeichnet sich in diesen Beispielen ab. Denn es ist nicht bloß ein Wandel, es ist ein neues politisch-mediales Zeitalter, in dem wir uns jetzt befinden und zu dessen Hauptmerkmalen die Zuspitzung und die Beschleunigung gehören. Wer dafür aktuell Belege sucht, findet sie reichlich bei den Wahlen in Thüringen oder den Protesten gegen Bernd Lucke an der Hamburger Uni. Wer dagegen nach Anzeichen für eine intakte Debatten-Kultur sucht, findet sie kaum noch. Alle Appelle nutzen da nichts: Es ist etwas zersplittert und zerstört, was mal Öffentlichkeit hieß und als Basis des Politischen galt, als Ort der Auseinandersetzung.
Die Probleme nehmen zu, die Debatten werden aber reduzierter
Es geht hier also nicht nur um den oft beklagten Hass in den Sozialen Netzwerken, der von rechts wie links in Schwarz und Weiß spaltet, oder um Populismus in Parteien. Die Mechanismen schlagen längst auf die gesamte Medienwelt und den kompletten Politikbetrieb durch. Und die Veränderungen wirken so dramatisch und unumkehrbar wie die Folgeschäden für die Demokratie.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit basiert in der Öffentlichkeit immer auf medialer Vermittlung. Aber während die Probleme in der Wirklichkeit an Komplexität zunehmen – Umwelt und Migration, soziale Gerechtigkeit und technischer Fortschritt –, werden die Debatten darüber immer reduzierter. Denn wer im medialen Dauerfeuer noch bestehen will, muss eben schnell und zugespitzt liefern – das gilt für die Politiker wie für die Medien selbst. Und weil sich Aufmerksamkeit am besten durch Gefühle erregen lässt, orientiert sich die Reduktion nicht am Wesentlichen, der Sache, sondern auf das Personal und die Extrempositionen. Statt der Debatte um Positionen herrscht der Streit der Personen.
Politik wird zum Kampf um Meinungsmacht
Politik wird so durch den medialen Katalysator, der beschleunigt und zuspitzt, zusehends zum Kampf um Meinungsmacht durch gefühlte Wahrheiten, während im Internet zeitweise bereits ein Bürgerkrieg tobt. Kein Wunder, dass so einerseits der Politikverdruss zunimmt und andererseits die Sehnsucht wächst nach Politikern, die alles irgendwie wieder in Ordnung bringen – eine Erwartung, an der Menschen und Parteien in Regierungsverantwortung nur scheitern können angesichts der Komplexität der Wirklichkeit.
Die Unruhe ist der Normalzustand dieses neuen politisch-medialen Zeitalters. Darum bietet sie Unruhestiftern auch die beste Bühne, im Politischen wie im Medialen. Und Erfolge in der Aufmerksamkeit geben beiden ja auch recht – zumindest kurzfristig: Wer sich als Medium einem Aufreger verweigert, wird mit Nichtbeachtung gestraft oder gar der Unterdrückung bezichtigt; wer als Politiker nur Abwägendes spricht, wird nicht zitiert oder gar als schwach charakterisiert. Spätestens mittelfristig aber stirbt so nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch die Fähigkeit zum Kompromiss. Und das bedeutet den Sieg der Radikalen, das Ende der Demokratie. Wer würde heute noch mit Hölderlin hoffen: „Wo aber die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch“?