Die Hamas hat sich gründlich verkalkuliert. Die Islamisten in Gaza glaubten, der arabische Frühling mache sie unangreifbar. Nach der Revolution in Ägypten schien ein großer israelischer Vergeltungsschlag unwahrscheinlich. Im Muslimbruder Mohammed Mursi im Kairoer Präsidentenpalast sah die Hamas eine diplomatische Trumpfkarte. Dessen Partei steht dem Friedensvertrag mit Israel feindlich gegenüber, genau wie ein großer Teil der Ägypter. Premier Benjamin Netanjahu würde es nicht wagen, den strategischen Vertrag mit Kairo zu gefährden, nur um ein paar Raketenabschussteams in Gaza zu töten, dachte man in Gaza. So ließ sich die Hamas dazu hinreißen, Israel mit immer gewagteren Nadelstichen zu provozieren. Die Zahl der Raketen, die auf israelische Ortschaften abgeschossen wurde, nahm in den vergangenen Wochen stark zu. Immer wieder gestatteten die Islamisten anderen Organisationen, israelische Soldaten auch jenseits des Grenzzauns anzugreifen.
Die Hamas-Führer erwarteten keinen Angriff, weil Israel seit Montag keine Vergeltungsschläge mehr durchführte. Am Tag des Angriffs besuchten Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak die Golanhöhen mit der Presse im Tau. Israels Aufmerksamkeit war scheinbar auf eine andere Front gerichtet.
Den Militärchef der Hamas, Ahmed al-Dschabari, muss die israelische Rakete, die ihn in Gaza tötete, deswegen völlig überrascht haben. Genau wie die präzisen Bombardements der Depots mit den Mittelstreckenraketen. Schon wenige Minuten nach Beginn der Operation war die Gefahr, dass auch Tel Aviv beschossen würde, scheinbar beseitigt. Der Traum vom ägyptischen Beistand endete wenig später, als Mursi klarmachte, dass er die Beziehungen zu Israel vorerst nicht abbricht. Und die rückhaltlose Unterstützung des wiedergewählten US-Präsidenten Barack Obama für Israels Kampagne muss die Furcht wecken, dass Netanjahu seinen ersten Krieg als Premier so lange führen kann, wie er will.
Und hier liegt genau das Problem: Israels erklärte Kriegsziele wie „Ruhe für Israels Süden“ und „Schwächung der Hamas“ sind schwammig formuliert. Die Operation „Säule der Verteidigung“ begann vielleicht präziser als vergangene Kriege. Angesichts der vielen Luftangriffe ist die Zahl palästinensischer Zivilopfer verschwindend klein. Doch auch 2006 im Libanon und 2009 in Gaza gelang es Israel, anfangs beachtlich zu punkten. Vom anfänglichen Erfolg geblendet verstanden es Netanjahus Vorgänger jedoch nicht, den Krieg rechtzeitig zu beenden. Der Libanonkrieg endete mit einem militärischen Patt, die Operation in Gaza mit einer diplomatischen Niederlage in Form des Goldstone-Berichts, der Israel Kriegsverbrechen vorwarf und international isolierte.
Wann wird Netanjahu also entscheiden, dass es genug ist? Welche Ziele kann er noch aus der Luft zerstören? Will er wirklich eine blutige Bodenoffensive mit offenem Ausgang riskieren? Sein Wunsch, die Hamas mit Luftschlägen dazu zu bringen, dass sie um einen Waffenstillstand bettelt, wird ein Traum bleiben. Die Islamisten kämpfen bis zum letzten Zivilisten in Gaza. Derweil steigert jeder Luftangriff die Gefahr für einen dramatischen Fehlschlag, bei dem unschuldige Palästinenser ihren Tod finden. Netanjahu sollte die Operation schnell beenden, sonst verzettelt er sich am Ende genau wie die Hamas.