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WÜRZBURG
Leitartikel: Die Buchautoren werden politischer
Gesellschaftliche Fragen rücken in den Mittelpunkt
Wolfgang Schütz
 |  aktualisiert: 05.11.2015 03:48 Uhr

Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen.“ Der Satz könnte genau so in einem politischen Leitartikel stehen, der frühere Versäumnisse der Politik aufzuzeigen versucht, nach dem Motto: Was wir durch fragwürdige Abkommen zu verdrängen versucht haben wie jenes, dass für Flüchtlinge das Erstankunftsland zuständig ist, das fällt nun verschärft auf uns zurück.

Tatsächlich stammt der Satz aus einem aktuellen deutschen Roman. Es ist „Geht, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck, der unter den Finalisten des Deutschen Buchpreises war und – obwohl nun nicht prämiert – weiterhin als „das Buch der Stunde“ gilt. Denn die Autorin lässt darin einen pensionierten Professor mit DDR-Vergangenheit zum Helfer von Flüchtlingen werden. Ein Buch über die Mitmenschlichkeit, manche würden es derzeit „Gutmenschentum“ nennen – und über die Unmenschlichkeit von Grenzen angesichts menschlicher Not. Gefragt, ob sie sich darum auf Aussagen festnageln lasse wie „Macht die Grenzen auf“, antwortet Jenny Erpenbeck: „Ja, zum Beispiel. Warum nicht?“

Diese eindeutige Position zu einem aktuellen Brennpunkt überrascht nicht nur, weil sie manchem, gelinde gesagt, etwas mutig vorkommen wird. Sondern auch, weil das offene Engagement von Romanautoren in Gesellschaftsdebatten lange wie etwas aus der alten Bundesrepublik wirkte. Von Großbürgerschriftstellern wie Günter Grass. Tatsächlich aber ist der politische Autor zurück. Nicht von Ungefähr ist ein zentrales Thema der heute offiziell beginnenden Frankfurter Buchmesse die Meinungsfreiheit. Erpenbeck ist ja nur ein Beispiel. Bei den ebenfalls für den Buchpreis nominierten Ulrich Pelzer und Ilja Trojanow wie beim prämierten Frank Witzel werden deutsche Politik und deutsche Werte untersucht.

Zudem werfen internationale Autoren auch bei uns entscheidende Fragen auf: der Franzose Michel Houellebecq mit seiner Vision von der „Unterwerfung“ des Abendlandes durch den Islam und US-Autor Dave Eggers mit seiner Warnung vor dem diktatorischen Potenzial des Internets.

Die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch erhält den Literaturnobelpreis für Werke, die die menschlichen Verheerungen durch die Politik dokumentiert, der Deutsch-Türke Navid Kermani den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für sein zwischen Muslimen und Christen vermittelndes Schreiben.

Politik also hat literarisch Konjunktur. Das geht bis hin zu Botho Strauß, der sich kürzlich im „Spiegel“ als „Der letzte Deutsche“ bezeichnete und resignierte: Angesichts des sich abzeichnenden Verfalls unserer Kultur könne man sich nur noch in elitäre Zirkel zur Bewahrung des Geistes zurückziehen.

Dabei spricht der Zug der Zeit genau für das Gegenteil. Autoren sind wenn auch keine Großbürger mehr, so doch auch Bürger, die sich mit dem Drängenden beschäftigen. Deren gesellschaftliche Funktion darin besteht, die Welt gründlicher zu durchdringen und mit ihrem Erzählen unseren Blick zu weiten. So wie sich das Land – präsidial regiert – über einige Jahre hinweg ins Private zurückgezogen hatte, hatten deren Bücher großteils das glückssuchende Ich umkreist. Nun ist es wie in Politik und Gesellschaft: Das im Wohlstand Verdrängte kehrt nun verschärft zurück.

 
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