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Leitartikel: Deutschland ist ärmer geworden
Michael Reinhard
Michael Reinhard
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:59 Uhr

Er war eine lebende Legende. Die Deutschen haben ihn, den laut einer Umfrage „coolsten Kerl Deutschlands“, wie kaum einen anderen Landsmann verehrt. Klar, dass er auch bei der Frage nach dem bedeutendsten Bundeskanzler auf Nummer eins landete: Helmut Schmidt hatte mit seiner moralischen Autorität längst den Status des Unangreifbaren erworben. Sein Wort hatte Gewicht, auf einen wie ihn hörte man gerne. Mit dem populären Hanseaten starb nicht nur ein Vorbild für die Mehrheit der Bundesbürger. Mit ihm hat zugleich ein Typ Politiker die Bühne des Lebens verlassen, wie er heute im etablierten Politikbetrieb kaum noch zu finden ist.

Das Phänomen Helmut Schmidt hat viele Facetten. Schon früh in seiner politischen Karriere hat er sich den Ruf des entschlossenen Krisenmanagers erworben. Als Hamburg 1962 von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht wurde, bei der mehr als 300 Menschen ihr Leben verloren, fackelte der damalige Innensenator Schmidt nicht lange. Er gab der Bundeswehr eigenmächtig den Einsatzbefehl – damit die Soldaten in der katastrophalen Situation den Bürgern helfen konnten. Sein Mut und sein Engagement sind bis heute unvergessen.

Während seiner späteren Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 war der Kettenraucher keineswegs so unumstritten, wie es heute scheint. Vor allem der von ihm forcierte Nato-Doppelbeschluss stieß damals in weiten Teilen der Bevölkerung auf gehörigen Widerstand. Es war die Geburtsstunde der Friedenbewegung. Sie wollte das Wettrüsten zwischen Ost und West nicht länger hinnehmen. Hundertausende gingen aus Protest auf die Straßen der Republik. Doch selbst seine einst schärfsten Widersacher hatten längst ihren Frieden mit „Schmidt-Schnauze“ gemacht. So wie die Grünen-Vorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir: „Auch wenn die Grünen gerade in der Gründungsphase in wichtigen Fragen oft auf der anderen Seite der Debatte standen, werden wir Helmut Schmidt, seinen Scharfsinn und seine Freude an der politischen Auseinandersetzung vermissen.“

Zum dunkelsten Kapitel der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten gehörten zweifelsohne die Morde und Entführungen durch die Rote Armee Fraktion (RAF). Unvergessen bleibt Schmidts wohl schwierigste Entscheidung nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 durch die RAF. Er weigerte sich, mit den Terroristen zu verhandeln – mit schwerwiegenden Folgen: Schleyer musste nach sechs nervenaufreibenden Wochen sterben. „Mir ist sehr klar bewusst, dass ich – trotz aller redlichen Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin“, bekannte Schmidt rückblickend. Deshalb war er besonders bewegt, als ihm die Familie Schleyer 2013 als Zeichen der Versöhnung den Hanns-Martin-Schleyer-Preis verlieh – und damit „öffentlich ihren Respekt gegenüber meiner damaligen Haltung zum Ausdruck“ brachte.

Verantwortungsbewusstsein, Mut, Unbestechlichkeit, Integrität, scharfer Verstand, Unabhängigkeit des Geistes: Das sind Attribute, die den Altkanzler ein Leben lang ausgezeichnet haben. Und die mit dafür verantwortlich sind, dass er auch als „uralter Kerl, der an den Rollstuhl gefesselt ist“ (Schmidt über Schmidt) noch immer so viele Menschen in seinen Bann gezogen hat. Der Journalist und Autor Harald Martenstein hat ein wesentliches Erfolgsgeheimnis für Schmidts Beliebtheit einmal sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Alte Politiker sind weder klüger noch mit einem besseren Charakter gesegnet als jüngere. Sie sind aber freier, das wirkt sich positiv aus. Sie wollen nichts mehr werden, sie müssen keine Rücksicht nehmen, sie sagen einfach das, was sie denken. An den alten Politikern kann man erkennen, wie die Politik sein könnte, wenn jeder einfach das sagt, was er oder sie denkt.“

Der vielfache Preisträger, Hamburger Ehrenbürger und Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Hat gesagt, was er dachte. Ohne Rücksicht auf irgendjemand oder irgendetwas zu nehmen. So auch vor zwei Jahren, als er öffentlich vorgetragene Kritik an der Menschenrechtslage in China für unklug erklärte, „denn damit erreicht man nichts. Es ärgert nur die Chinesen.“ Und den deutschen Politikern schrieb er wenig schmeichelhaft ins Stammbuch, sie sprächen das Thema in Wirklichkeit nur an, „um dem heimischen Publikum zu imponieren. Das ist der eigentliche Grund für diese Belehrungen“ – typisch Helmut Schmidt!

Er wird als großer Europäer, bedeutender Staatsmann und engagierter Streiter für die Menschlichkeit in Erinnerung bleiben. Zu Recht wird er einen herausgehobenen Platz in den Geschichtsbüchern erhalten. Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat gestern ausgedrückt, was wohl die meisten Deutschen denken: „Wir wissen, Deutschland ist ärmer geworden, und wir empfinden, er wird uns fehlen – immer wieder.“

 
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