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Leitartikel: Der vergessene Krieg in Syrien
Von Martin Gehlen red.politik@mainpost.de
 |  aktualisiert: 13.01.2016 10:52 Uhr

Mehrere Hunderttausend Videos existieren inzwischen von der syrischen Apokalypse, so schätzen Internetexperten. Tag für Tag kommen neue Fotos hinzu, rund um den Globus per Smartphone und Twitter abrufbar. Kein Krieg und kein Bürgerkrieg bisher wurden so minutiös dokumentiert, wie das dreijährige Morden in Aleppo, Homs, Hama oder Damaskus.

Ohne Zweifel, die Bilder haben aufgerüttelt und mobilisiert. Sie haben die Welt mit Leid und Unglück einer gesamten Bevölkerung konfrontiert – zerstörtes Leben, zerstörte Kindheit, zerstörte Gesundheit, zerstörte Heimat und zerstörte Zukunft. Inzwischen jedoch beginnen internationale Aufmerksamkeit und Interesse zu erlahmen. Zum einen gilt das bestialische Kämpfen in Syrien als hoffnungslos verfahren und faktisch unlösbar.

Zum anderen haben sich die überregionalen Akteure, deren Klingen sich seit 2011 auf syrischem Boden kreuzen, in den letzten Monaten in neue Konflikte untereinander verstrickt. Mit der Ukraine-Krise ist zwischen Europa, den Vereinigten Staaten und Russland ein brisanter Brandherd entstanden, der auch Teile des alten Kontinents in Mitleidenschaft ziehen könnte. Gleichzeitig wachsen in den westlichen Regierungszentralen die Sorgen vor einem zweiten Afghanistan an der südlichen Mittelmeerküste – und damit direkt vor der Haustüre der Europäischen Union. Syrien ist zum Ziel eines Dschihad-Tourismus geworden, wie es ihn seit der sowjetischen Invasion in Afghanistan vor 35 Jahren nicht mehr gegeben hat. Tausende Deutsche, Franzosen, Engländer, Kanadier, Australier und Amerikaner tummeln sich mittlerweile als Gotteskrieger auf dem Schlachtfeld gegen Diktator Baschar al-Assad. Und irgendwann werden sie als hochgefährliche und kampferprobte Islamisten auch ihre Herkunftsländer heimsuchen.

Ähnliches fürchten die reichen Emire und Monarchen am Golf, die seit dem Machtumsturz in Ägypten untereinander tief zerstritten sind. In ihrer regionalpolitischen Kalkulation wiegt die Dschihadisten-Gefahr durch eigene Rückkehrer mittlerweile schwerer als ein möglicher Machtgewinn durch den Kollaps des Assad-Regimes. Vor allem aber plagt sie die Sorge, durch erfolgreiche Atomverhandlungen zwischen ihrem Erzfeind Iran und dem Westen demnächst fundamental ins Hintertreffen zu geraten. Sollte es Teheran gelingen, seine Bande zu Washington und Brüssel neu zu knüpfen, werden in der ganzen Golfregion die Karten neu gemischt, egal, wer im Präsidentenpalast von Damaskus auf dem Thron sitzt.

Diese neuen globalen und regionalen Konfrontationen aber bewirken, dass das Schicksal der syrischen Unglücklichen im Weltbewusstsein zunehmend verblasst. Die humanitäre Zahlungsmoral der internationalen Gemeinschaft wird immer dürftiger. Und die seelische Katastrophe von Millionen Entwurzelter, die in den Nachbarländern rund um Syrien Zuflucht gesucht haben, gerinnt zu einer Dauermisere, die kaum noch interessiert. Denn die internationalen Machtakteure – so scheint es – haben Syrien als Schlachtfeld abgehakt. Zurückbleiben Menschen, die in eine Generationenkatastrophe geraten sind, sich selbst nicht mehr helfen können und darum erst recht Anspruch auf unsere Solidarität haben. Denn ihr Leid geht ohne Erbarmen weiter. Das zeigen jeden Tag aufs Neue die Fotos und Videos aus Syrien.

 
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