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WÜRZBURG
Leitartikel: Der liberale Übervater ist gegangen
Folker Quack
 |  aktualisiert: 07.11.2019 22:32 Uhr

Zwei Wochen nach seinem Ziehsohn Guido Westerwelle hat das Urgestein der FDP die weltliche Bühne für immer verlassen. Hans-Dietrich Genscher gehörte zum Inventar der Bonner Republik. Kaum ein anderer hat den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung mit der DDR so entscheidend mitgeprägt wie er. Dabei war er keineswegs frei von Fehlern und Fehleinschätzungen. Für seine Partei, die FDP, war er bis zuletzt das große und alle überragende Vorbild. Doch letztlich gehört auch das Scheitern der FDP zum späten Erbe eines Hans-Dietrich Genscher.

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In Erinnerung aber werden vor allem drei Eigenschaften des Ausnahme-Politikers bleiben: sein diplomatisches Geschick, sein ausgeprägter Realitätssinn und seine durch und durch liberale Geisteshaltung. Auch wenn sich „Genschman“, wie ihn selbst politische Gegner liebevoll nannten, politischen Notwendigkeiten und Windrichtungen in manchmal atemberaubender Geschwindigkeit anpassen konnte – seine liberalen Überzeugungen verriet er nie. Und die gingen bei ihm weit über niedrige Steuern, weniger Staat und eine in Sonntagsreden proklamierte Freiheit des Menschen hinaus.

Wie kein anderer stand er für eine offene, liberale Gesellschaft, eine soziale Marktwirtschaft, die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit des Menschen. Für ihn waren diese unverrückbaren Freiheitsrechte beileibe nicht nur vor einem zu mächtigen Staat zu schützen, sondern vor jeder Form von Machtkartellen, Konzernen und Organisationen. Genschers Liberalismus schließt Einfühlungsvermögen und Verständnis auch für die Menschen ein, die nicht zu den Starken, zu den Leistungsträgern gehören. Eine Fähigkeit, die ihn auszeichnete und die praktisch alle seine gescheiterten Nachfolger an der Parteispitze vermissen ließen.

Zugleich war der langjährige Außenminister wie kein Zweiter die Verkörperung des Chefdiplomaten. In den Zeiten des Kalten Krieges pendelte er zwischen Ost und West, verhandelte, blieb zäh und hartnäckig, bis ein Kompromiss gefunden war. Dabei war die Entspannungspolitik stets seine oberste Maxime. Und so trug er die Außenpolitik der sozialliberalen Koalition bruchlos in die Ära Kohl. Außenpolitisch hätte es der Wende nicht bedurft. Vorangetrieben aber wurde sie dennoch auch und gerade von Hans-Dietrich Genscher.

Er sah 1982 in der SPD keinen verlässlichen Partner mehr, vor allem wegen deren Haltung zum Nato-Doppelbeschluss, aber auch in wirtschaftspolitischen Fragen. Natürlich handelte er damals auch aus Gründen der Staatsräson. Vor allem aber wollte er seine FDP an der Macht halten, was an der Seite der Union die weitaus größeren Chancen bot. Zugleich legte er den Grundstein zu einer FDP, die sich an der Seite der Union zunehmend zum wirtschaftsliberalen Anhängsel entwickelte. Und je weiter sich die Union in die Mitte bewegte, desto überflüssiger wurden die Liberalen als eigene Partei.

Natürlich war das schwer vorhersehbar und hätte verhindert werden können, wenn man in der Innen- und Rechtspolitik standhaft geblieben wäre. Bis zuletzt beriet Hans-Dietrich Genscher den derzeitigen Parteivorsitzenden Christian Lindner, um die FDP wieder zu einer eigenständigen Kraft zu machen. Dies wird die Partei jetzt ohne ihren Übervater schaffen müssen.

 
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