Plötzlich drehte der Wind. Noch Tage nach dem GAU hatte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann in der Tagesschau auf die 2000 Kilometer zwischen Deutschland und dem Katastrophenort in der fernen Ukraine verwiesen und alles abgestritten. Eine Gefährdung durch erhöhte Radioaktivität? „Absolut auszuschließen.“ Und dann war sie eben doch da, die Wolke. Und mit ihr die Angst vor dem Unsichtbaren. Fußballspiele wurden abgesagt, Freibäder geschlossen, Spielplätze gesperrt, Sandkästen geleert. Kleingärtner pflügten ihr Gemüse unter und liefen mit Geigerzählern durch die Rabatte, Hausfrauen kauften H-Milch und Dosen für Jahre. Zeitungen druckten Halbwertszeit-Tabellen, wochenlang durften Kinder nicht draußen spielen, im Regen bekamen die Erwachsenen Panik.
Wer kann sich nicht an den Frühling und Sommer 1986 erinnern. Die Monate nach dem 26. April 1986 sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Der GAU betraf jeden. Tschernobyl war die furchtbarste Katastrophe der Nuklearindustrie und wurde zum Mythos der Gefährlichkeit, zum Mahnmal der atomaren Bedrohung.
Denn an jenem 26. April wurden Kernkraftverfechter und Büttel der Atomindustrie Lügen gestraft. Auch wenn sie es selbst nicht wahrhaben wollten. Als der Reaktor 4 in Tschernobyl havariert war, wurde – in der Union und teils auch in anderen Parteien – erst einmal geleugnet, abgestritten, beschwört und beschwichtigt. Die Energieversorger betonten unermüdlich die Unterschiede zwischen sowjetischen und hiesigen Reaktoren. Wer sich Sorgen machte, auf die Straße ging, protestierte, wurde in Bierzelten und im Fernsehen als Anti-Atom-Spinner verachtet. Da konnten die Regenwolken noch so viele radioaktiven Teilchen bringen. Uns Deutschen passiert so was nicht. Die Atomkraft ist sicher.
Tschernobyl wurde nicht nur zum Synonym für desolate Informationspolitik. Tschernobyl wurde auch zum Synonym für Beschwichtigung – und Vertagung der Konsequenzen. Es brauchte, 25 Jahre später, ein zweites dramatisches Unglück, bis die Politik die wichtigste Lehre aus der Katastrophe von 1986 zog. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima ging alles ganz schnell. Statt die Fehler ihrer Vorgänger zu machen und zu leugnen, nahm Deutschlands Regierung eilig acht Reaktoren vom Netz und rief den Ausstieg aus. Statt gar nicht hieß es plötzlich: ganz!
Energieformen in Gut und Böse zu trennen, hilft wenig. Gleich welcher Art, Energieerzeugung hat immer ihre Vor- und Nachteile. Jede Technologie kann Menschen versorgen, jede kann schaden. Und manche eben gewaltig. Ideologie bringt nicht weiter, das Abwägen von Nutzen und Risiken schon. Bei der Kernenergie haben die Verantwortlichen spät das Nötige getan.
Die Atomkraft hatte sich nur mit öffentlicher Hilfe durchsetzen lassen – und war, mit der Kohle, als zentralistische Energiestruktur eine riskante Fehlplanung des Staates. Die Folgekosten sind enorm. Wohin nur mit dem hochradioaktiven Abfall? Die Frage der Endlagerung ist noch immer nicht geklärt, mit dem Abschalten ist es nicht getan, der Rückbau wird Jahre dauern. Und von der Atomenergie auf ein modernes, nachhaltiges, vielfältiges Energiesystem umzustellen, ist mühsamer als mancher dachte und denkt.
Aber immerhin: Die Wende ist da, der Wind hat gedreht.