Sie waren alle dabei. Doch sie können sich nicht erinnern – weil sie sich nicht erinnern wollen. Ganz Gallien leidet im Jahre 50 vor Christus in dem legendären Comicband „Asterix und der Avernerschild“ an einer besonderen Amnesie. „Ich kenne kein Alesia“, brüllt Majestix, der Häuptling des berühmten gallischen Dorfes, obwohl er dort gegen den römischen Imperator Gaius Julius Caesar gekämpft – und verloren hat. Alesia? Hat es nicht gegeben.
In Berlin wiederholt sich in diesen Tagen diese Szenerie. Die gesamte Stadt leidet ebenfalls an einer besonderen Amnesie. In einer Woche wird ein neues Abgeordnetenhaus gewählt, der Wahlkampf, bislang eher laut- und lustlos, geht in seine heiße Phase, doch das milliardenschwere Desaster um den Großflughafen BER spielt so gut wie keine Rolle in der Auseinandersetzung der Parteien. „Ich kenne keinen BER“, heißt die Devise.
Kein Wunder, sowohl die beiden Regierungsparteien SPD und CDU, die seit 2011 miteinander regieren, als auch die Linke, die zuvor von 2002 bis 2011 an der Seite der SPD mitregierte, wollen an ihr Versagen nicht erinnert werden. Und die Grünen, eigentlich unbelastet, thematisieren es auch nicht. BER? Gibt es nicht. Zumal es möglicherweise doch noch etwas mit der Eröffnung im nächsten Jahr werden könnte. Eine seltsame politische Apathie liegt über der Hauptstadt.
Nicht einmal die Ankündigung des Regierenden Bürgermeisters und SPD-Spitzenkandidaten Michael Müller, die ungeliebte Koalition mit der CDU beenden und stattdessen ein rot-rot-grünes Bündnis schmieden zu wollen, befeuerte den müden Wahlkampf.
Müller, der Ende 2014 seinen Ziehvater Klaus Wowereit ablöste, ist es bislang kaum gelungen, eigene Akzente zu setzen und ein eigenständiges Profil zu entwickeln, zwar gilt er als fleißig und seriös, aber auch als blass und bieder. Für ihn ist es schon ein Erfolg, wenn die SPD auf niedrigem Niveau wieder stärkste Partei wird – mit etwas über 20 Prozent.
CDU weit abgeschlagen
Die CDU kann von der Schwäche der SPD nicht profitieren, sie hat keine eigenen Themen, keine zugkräftigen Personen und keinen potenziellen Koalitionspartner, ihr Spitzenkandidat, Innensenator Frank Henkel, liegt in den Umfragen weit abgeschlagen hinter Müller – unter 20 Prozent. Einen Dreikampf um Platz drei liefern sich die Grünen, die Linken und die AfD, die sich in der Hauptstadt von ihrer gemäßigten Seite zeigt, aber auch keine inhaltlichen Akzente setzt.
Dabei gäbe es an Themen keinen Mangel. Die Mietpreise explodieren, in den angesagten Kiezen herrscht ein starker Verdrängungswettbewerb, die soziale Spaltung steigt, die Drogenszene breitet sich aus, die Wirtschaft ist unverändert schwach. Gleichzeitig hat der rigide Sparkurs der Vergangenheit seine Wirkung hinterlassen. Schulen und andere öffentliche Einrichtungen sind marode, die Verwaltung ist chronisch überlastet, die Stadt hängt am Tropf des Länderfinanzausgleichs.
Doch Visionen, wie sich die Stadt entwickeln soll und wie sie im Jahr 2020 aussehen soll, sind Fehlanzeige. Dabei ist das Potenzial der Spreemetropole gewaltig, sie hat Universitäten, Forschungseinrichtungen, Museen und Kultureinrichtungen von Weltgeltung, zudem zählt sie zu den weltweit wichtigsten Zentren für innovative Unternehmensgründungen und Start-ups der Internetbranche. Der Tourismus boomt, ebenso die Kreativ- und Kulturwirtschaft sowie die Informations- und Kommunikationsbranche.
Die Zukunft hat in Berlin längst begonnen. Die Stadt, die einzige Metropole Deutschlands mit Weltgeltung, die nach einem geflügelten Wort niemals fertig ist, erfindet sich gerade einmal wieder neu. Nur die Politik hinkt mit gehörigem Abstand hinterher, droht gar den Anschluss an die neue Zeit mit ihren einzigartigen Perspektiven zu verlieren. Dabei bräuchte Berlin nichts Dringender als eine ordentliche Regierung. Die Zeit ist reif für einen Neuanfang. Doch der ist nicht in Sicht. Jedenfalls nicht bei dieser Wahl.