Es handele sich um die „dunkelste Stunde der Demokratie“, titelte eine Zeitung unter einem Foto des Westminster-Palasts, über dem finstere Wolken das Unheilvolle ankündigen. Die derzeitigen Titelseiten der britischen Blätter veranschaulichten gut, welch düstere Stimmung unter den Brexit-Anhängern im Königreich herrscht.
Eigentlich wollten sie am 29. März den Unabhängigkeitstag feiern, endlich befreit von den Fesseln der EU. Stattdessen sind die Briten auch an diesem Wochenende noch Mitglied im Staatenverbund. Die Brexit-Wähler fühlen sich betrogen, verraten, ignoriert. Und die Zukunft ist so ungewiss wie nie, nachdem das Parlament die flehenden Bitten der europaskeptischen Presse ignorierte und den zwischen Brüssel und London ausgehandelten Austrittsdeal abermals ablehnte.
Dass es mit dem Deal wieder nicht klappt, war vorhersehbar
Es mag helfen, das Votum als Theater-Einlage von Premierministerin Theresa May zu bewerten, bei der sie die nationale Brexit-Heilige spielen und auf dramatische Weise am offiziellen Austrittstag die Verantwortung ihres eigenen politischen Versagens dem Parlament zuschieben wollte. Das konnte nicht funktionieren, denn dass es mit dem Deal wieder nicht geklappt hat, war vorhersehbar. Das Abkommen ist tot. Und dieser Umstand bleibt die Schuld der Premierministerin. Es hätte nicht soweit kommen müssen, wenn May viel früher parteiübergreifende Allianzen geschmiedet und ihr Vorgehen kommuniziert hätte. Wenn sie mit einer Strategie und einem Plan in die Verhandlungen mit Brüssel gegangen wäre anstatt zwei Jahre damit zu vergeuden, sich bei den Hardlinern in der völlig zerstrittenen konservativen Partei anzubiedern. Wenn sie 2017 der Versuchung widerstanden hätte, Neuwahlen auszurufen.
In den Fehlerkatalog reihen sich all die Kehrtwenden ein, mit denen sie nicht nur das Parlament gegen sich aufbrachte, sondern auch die EU frustrierte und die Bevölkerung weiter spaltete. Hinzu kommt, dass viele britischen Politiker, nicht zuletzt May, zu feige waren, die Wähler auf die Brexit-Realität vorzubereiten, in die das Königreich insbesondere bei einer chaotischen Scheidung zu stürzen droht.
Die Aussagen aus Brüssel dürften für London nur Drohkulisse sein
Ja, es handelt sich um unbequeme Wahrheiten. Die Wirtschaft wird großen Schaden nehmen, der Einfluss Großbritanniens auf der internationalen Bühne sinken. Indem die Regierung unhaltbare Versprechen machte, wurde die Erwartungshaltung vieler Brexit-Wähler nur genährt. Sie dürften bei den nächsten Wahlen auf Scharlatane wie Ex-Außenminister Boris Johnson oder Ex-Brexit-Minister Dominic Raab setzen. Es sind keine guten Aussichten für das ohnehin völlig gespaltene Königreich. Und doch stellen Neuwahlen den einzigen Weg aus der Sackgasse dar.
Die EU warnt, dass ein ungeordneter Austritt mit der gestrigen Niederlage im Parlament wahrscheinlich ist. Und ja, es bleibt die Default-Option. Doch die Aussagen aus Brüssel dürften lediglich Drohkulisse für London sein. Wer will ernsthaft glauben, dass die EU es wagen würde, den Briten keinen Aufschub zu gewähren und dann in den Augen der Kritiker für einen No-Deal-Brexit verantwortlich gemacht zu werden? Auch wenn es unfair klingt, die Staatengemeinschaft würde zum Sündenbock erklärt, wenn die Briten am 12. April ohne Abkommen aus der EU krachen sollten. Einen Monat vor den Europawahlen kann sich Brüssel solche Schlagzeilen nicht leisten, abgesehen davon, dass auch die Wirtschaft auf dem Kontinent Schaden nehmen würde. Das darf niemand wollen. Die Frage ist, wie weit die Geduld der Europäer mit den Briten noch reicht.