Haben Sie schon mal in einer Lotterie gewonnen? Und selbst wenn, würden Sie die Heilung Ihres kranken Kindes zum Glücksspiel machen wollen? Der Schweizer Pharmakonzern Novartis verlost ein Genpräparat an 100 Kinder mit einer schweren Muskelerkrankung. "Skandal" möchte man schreien, ein perfider Marketing-Gag zu Lasten verzweifelter Familien. Doch es lohnt näher hinzuschauen.
Denn für Schlagzeilen sorgt nicht nur die ungewöhnliche Verlosungsaktion, sondern auch der hohe Preis von zwei Millionen Euro. So wird aus der Gen-Therapie das teuerste Medikament der Welt. Die ganze Aktion wirft ein Schlaglicht auf ungelöste Fragen im Gesundheitssystem.
Gesundheit kann auch ein Glücksspiel sein
Darf Glück über die Chance auf eine Heilung entscheiden? Natürlich nicht. Allerdings ist es auch Zufall, an einer so seltenen schwerwiegenden Krankheit wie der spinalen Muskelatrophie zu leiden. Die Krankheit ist wie viele schwere Erbkrankheiten autosomal rezessiv vererbt. Das heißt, beide Eltern müssen das mutierte Gen in sich tragen und es auch jeweils vererben. Vererbt nur ein Elternteil das gesunde Gen, bricht die Krankheit nicht aus. Sind beide Eltern Träger, liegt die Wahrscheinlich einer Erkrankung folglich bei 25 Prozent - Vererbung ist Lotterie. Das rechtfertigt noch lange nicht, dass jetzt auch Pharmakonzerne den Zufall entscheiden lassen, wer ihr Medikament bekommt und wer nicht. Menschliche Verantwortung muss anderen Regeln als dem Zufallsprinzip gehorchen.
Dennoch würde auch ich wie wohl alle betroffenen Eltern mich sofort an der Lotterie beteiligen, litte mein Kind an einer spinalen Muskelatrophie. Wie sollten Eltern ihrem todkranken Kind auch erklären, dass sie eine Chance auf Heilung nicht ergriffen haben? Zumindest hat jeder, der sich bewirbt, die gleiche Chance, das rettende Medikament auch zu bekommen.
Da die Pharmafirma wegen der sehr komplizierten Produktion des Präparats in diesem Jahr nicht alle Betroffenen behandeln kann und das Medikament nur in den USA zugelassen ist, entschloss man sich für die umstrittene weltweite Lotterieaktion der verfügbaren 100 Genpräparate. Dazu muss man wissen, dass das Medikament alle Phasen der Medikamentenentwicklung durchlaufen hat. Über Härtefallprogramme könnte man es also schon jetzt betroffenen Kindern in Deutschland geben.
Medikamente allen zugänglich machen
Dann könnten Ärzte entscheiden, bei welchen Kindern die Gen-Therapie der rettende Weg wäre. Und dann wäre das Pharmaunternehmen und die Krankenkassen in der verdammten Pflicht, es diesen Kindern auch so schnell wie möglich zugänglich zu machen. Alles andere wäre ethisch und moralisch genau so verwerflich wie die jetzt kritisierte Medikamenten-Lotterie.
Der Fall wirft viele Fragen zu unserem Umgang mit seltenen Krankheiten auf. Zwei Millionen Euro kostet die Behandlung. Vielleicht ist sie ja auch deshalb in Europa noch nicht zugelassen. In Deutschland gibt es geschätzte 50 Kinder mit der schweren Verlaufsform dieser Krankheit. Die Kosten für Forschung, Entwicklung und klinische Studien müssen also mit weit weniger Patienten refinanziert werden als beispielsweise bei einem Blutdrucksenker.
Die Solidargemeinschaft der Versicherten kann nicht aus der Pflicht genommen werden, nur weil eine Krankheit sehr selten ist. Für den Patienten darf es keine Rolle spielen, ob er an einer seltenen oder einer Volkskrankheit leidet. Patienten mit seltenen Krankheiten würden sonst gleich noch einmal mehr bestraft. Denn für die insgesamt 8000 Krankheitsbilder, die den Seltenen Erkrankungen zugerechnet werden, gibt es gerade mal 120 zugelassene Medikamente.
Das ist in der Tat wie ein Lotterie-Gewinn, wenn für einen Betroffenen eines darunter ist.
Der Autor ist selbst Vater eines Sohnes mit einer Seltenen Krankheit, für die es keine zugelassenen Medikamente gibt.