Helmut Kohl ist ein gebrechlicher Mann von 84 Jahren – aber er ist auch ein Mann, der nicht so leicht verzeiht. Christian Wulff zum Beispiel hält der Altkanzler für einen „ganz großen Verräter“, weil das spätere Staatsoberhaupt in der Spendenaffäre der CDU Ende der neunziger Jahre als einer der ersten in der Union auf Distanz zu ihm ging. Über Angela Merkel, die damals so kühl mit ihm brach, spottete Kohl anschließend, sie habe anfangs noch nicht einmal richtig mit Messer und Gabel essen können, so dass er sie bei festlichen Essen mehrfach zur Ordnung habe rufen müssen – und zu Norbert Blüm, der ihm 16 Jahre als Sozialminister diente, fiel ihm in den vielen Gesprächen mit seinem Biografen Heribert Schwan nur ein Adjektiv ein: „Hinterfotzig.“
Weit über zehn Jahre ist es her, das Kohl mit Schwan in entwaffnender Offenheit über sein Leben in der Politik plauderte, über seine vielen Neider und Kritiker und sein schwieriges Verhältnis zu Wolfgang Schäuble, der ihn so gerne als Kanzler beerbt hätte. Das Buch jedoch, das Schwan und sein Co-Autor Tilman Jens jetzt aus dem monumentalen Mitschnitt von 630 Stunden Tonband destilliert haben, ist keine Biografie, wie Helmut Kohl sie sich gewünscht hat. Im Gegenteil. Es zeigt den Kanzler der Einheit vor allem von seiner nachtragenden Seite. Einer Seite, von der viele Weggefährten wussten, dass es sie gibt, nicht aber, wie tief Kohls Groll gegen einige von ihnen sitzt.
Wulff? „Eine Null.“ Blüm? Ebenfalls „ein Verräter“. Der langjährige Finanzminister Gerhard Stoltenberg? „Feige und falsch.“ Bernhard Jagoda, damals Präsident der Bundesanstalt für Arbeit? „Ein trottelhaft katholisches Subjekt.“ Bauernpräsident Constantin Freiherr von Heereman? „Die größte Niete, total ungeeignet – außer für Aachener Karneval.“
Und Richard von Weizsäcker erst! „Mir war klar“, sagt Kohl einmal, „dass Richard sich selbst für den Klügsten, Besten und Allermoralischsten hält.“ Vom wärmenden Kamin des Präsidialamtes aus, höhnte der Altkanzler, habe Weizsäcker gemeinsame Sache mit seinen Gegnern in der CDU gemacht. Mit Rita Süssmuth oder Heiner Geißler zum Beispiel, die Kohl im Spätsommer 1989 gerne gestürzt und durch den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth ersetzt hätten, am Ende aber Angst vor der eigenen Courage bekamen.
„Irgendwo muss durchschimmern“, befiehlt Kohl seinem Biografen an einem jener langen Tage in den Jahren 2001 und 2002 in seinem Oggersheimer Keller, „dass all diese Leute das, was sie geworden sind, nur mit meiner Unterstützung geworden sind“. Oder, frei nach Mutter Kohl: „Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen.“ Einer der wenigen, die halbwegs ungerupft davonkommen, ist der ehemalige Generalsekretär Volker Rühe, dem Kohl immerhin das Attribut „eher nützlich“ verpasst.
Das Buch, das wie eine Abrechnung Kohls mit seinen alten Getreuen wirkt, ist die unmittelbare Folge eines großen Zerwürfnisses. Ursprünglich hatte Kohl den langjährigen WDR-Reporter Schwan als eine Art Lohnschreiber für seine Memoiren engagiert, von denen auf Basis der gemeinsamen Gespräche auch schon drei Bände erschienen sind. Nach einem Streit mit Kohls Ehefrau Maike Kohl-Richter, die angeblich ganze Passagen von ihm umschreiben wollte, beschwert sich Schwan allerdings bei Kohl, worauf der die Zusammenarbeit für beendet erklärt. Den anschließenden Rechtsstreit verliert Schwan in erster Instanz – er muss im März alle Bänder einem Gerichtsvollzieher aushändigen.
Ob er die Abschrift für das Buch benutzen durfte, ist strittig. Nach Informationen des „Spiegel“ hat Kohl ihm erlaubt, die Protokolle über die Arbeit an den Memoiren hinaus zu verwenden. Andere Medien dagegen berichten, Kohl habe seine Anwälte beauftragt, das Erscheinen des Buches zu stoppen, das heute in Berlin vorgestellt werden soll. Wenn der Altkanzler darin den SPD-Politiker Wolfgang Thierse als „Volkshochschulhirn“ bezeichnet, wird das vermutlich nicht einmal den so Kritisierten wundern – der war in der Spendenaffäre schließlich einer seiner unerbittlichsten Ankläger.
Auch in der CSU werden einige Veteranen schmunzeln, wenn sie lesen, wie Kohl über Innenminister Fritz Zimmermann gedacht hat: „Er war sieben Jahre Minister, von dienstags bis donnerstags. Im Herbst fanden die Treibjagden statt, da war seine Anwesenheit noch reduzierter.“ Deutlich befremdlicher klingt da schon das Urteil, das der Historiker Kohl im Nachhinein über Michail Gorbatschow fällt, einen der Architekten der Einheit. „Gescheitert“ sei der, befand Kohl. „Von Gorbatschow bleibt übrig, dass er den Kommunismus abgelöst hat, zum Teil wider Willen. Sehr viel mehr, was wirklich bleibt, fällt mir nicht ein.“
Auch sein Bild von Angela Merkel will nicht so recht zu deren enormen Popularitätswerten passen: „Diese Dame ist ja wenig vom Charakter heimgesucht“, befand Kohl damals kühl. Da könne man sich „nur bekreuzigen“.
Heribert Schwan, Tilman Jens. Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle. Heyne-Verlag, 256 Seiten, 19,99 Euro.