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„Klitschko hat kein Programm“
Achim Muth
 |  aktualisiert: 23.01.2014 19:19 Uhr

Die Lage in der Ukraine eskaliert. Der Machtkampf zwischen Regierung und demokratischer Opposition hat erste Tote gefordert, in der Nacht lief ein Ultimatum, das Präsident Viktor Janukowitsch zum Rücktritt aufforderte, ab. Im Interview spricht die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Ostexpertin Viola von Cramon (Bündnis90/Die Grünen) über die Oppositionsbewegung und den Hoffnungsträger Vitali Klitschko.

Frage: Wie beurteilen Sie die Lage in der Ukraine?

Viola von Cramon: Mich nimmt die Situation sehr mit. Das Ultimatum deutet darauf hin, dass sich die Lage weiter zuspitzen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Janukowitsch so einsichtig ist und sich bewegt. Ich fände es gut, wenn sich beide Seiten auf einen Prozess verständigten. Aber was, wenn nicht? Wird dann sein Präsidentensitz gestürmt? Stürmen Gegendemonstranten die US-Botschaft? Werden die Truppen zusammengezogen und fahren die Panzer Richtung Kiew? Gibt es im Kreml einen Plan zur Räumung? Ich hoffe das Beste, aber das Ultimatum macht mir Angst.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Von Cramon: Die hat Janukowitsch in der Hand. Er könnte sich mit den Akteuren so lange an einen Tisch setzen, bis ein Kompromiss gefunden ist. Die Absichten der Revolutionäre sind klar: Sie fühlen sich von den drei Oppositionsparteien nicht wirklich vertreten. Sie wollen weitergehende Reformen und Parteien, bei denen man bestimmen kann, die auch ein Programm haben und nicht nur Personen, die vorne stehen, aber sich eigentlich alle selbst bereichern. Das Grundvertrauen in die politische Klasse ist verloren. Aus Sicht von Janukowitsch würde ich jetzt auf einen Kompromiss setzen.

Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Von Cramon: Eine schwierige Frage. Die Revolutionäre fordern klar den Rücktritt von Janukowitsch und er hat natürlich auch jegliche Glaubwürdigkeit verspielt. Die Demonstrationen erst wochenlang in seinen Staatsmedien zu ignorieren und sie dann als terroristische Eingriffe aus dem Westen zu bezeichnen, ist totaler Nonsens. Die Kraft zur Veränderung kommt aus der Ukraine selbst. Ich habe Leute gesehen, die wenig Geld haben und auf dem Maidan trotzdem gespendet haben für die Revolution. Vielleicht könnte ein Kompromiss so aussehen: Für Janukowitsch und seine Leute gibt es eine Amnestie und für die Zeit bis zu den Wahlen im kommenden Jahr wird eine Übergangsregierung eingesetzt. Klar ist: Janukowitschs Zeit ist vorbei.

Sie selbst waren im Dezember bei den Oppositionellen auf dem Maidan. Woher rührt ihr Engagement für die Ukraine?

Von Cramon: Seit ich 1996 im Rahmen eines Regierungsberatungsprojektes das erste Mal für ein halbes Jahr in Kiew war und den Umbruch mitbekommen, das Ablösen von Moskau hautnah erlebt habe, ist mir das Land ans Herz gewachsen. Was ich auf dem Maidan erlebt habe, hat mich begeistert. Die Regierungsgegner haben dort einen Staat im Staate errichtet, es gibt Eingänge, die kontrolliert werden von eigenen Sicherheitskräften. Es ist faszinierend, wie diese Bewegung aufgrund eines Facebook-Aufrufs des ukrainischen Journalisten Mustafa Nayem entstanden ist. Nachdem Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschreiben wollte, war Nayem so frustriert, dass er sagte: 'Unser Land ist verloren. Ich gehe auf den Maidan und protestiere, wer ist noch dabei?' Er bekam schnell 700, 1000 Likes, und am selben Abend, dem 21. November, war der Maidan schon voll mit Leuten, die seinem Aufruf gefolgt waren. Das setzte sich fort bis heute.

Die politische Opposition kam erst später dazu?

Von Cramon: Sie wurde später fast zwangsweise mit in die Pflicht genommen, weil nicht 10 000 Menschen auf dem Maidan mit Janukowitsch verhandeln können. Die Opposition selbst hatte ja nie mit solch einer Dimension des Widerstands gerechnet. Ich selbst habe junge Menschen erlebt, die gesagt haben: 'Ich gehe hier nicht mehr weg, und wenn ich sterben muss. Ich werde dafür sorgen, dass wir zu einem Erfolg kommen, wie auch immer.’

Ist Vitali Klitschko der einzige Hoffnungsträger der Opposition?

Von Cramon: Das ist eine sehr deutsche Sicht, wir wünschen uns das so. Klitschko hat in der Ukraine lange darum kämpfen müssen, dass er anerkannt wird als Politiker. Er hatte immer nur einen Nebenwohnsitz in Kiew. Dann hat er aber sehr ernsthaft als Bürgermeister kandidiert. Das hat ihm Respekt verschafft und er ist tatsächlich eine charismatische Erscheinung. Aber vor 200 000 Menschen verblasst das etwas. Sein Ukrainisch ist gut, aber eigentlich seine zweite Sprache. Er ist glücklicherweise kein Demagoge, ganz im Gegenteil, aber ihm fehlt ein wenig der programmatische Unterbau. Mitreißen tun leider häufig andere auf dem Maidan. Die Zukunft wird nicht leicht für ihn, das ist kein Selbstläufer. Denn auch Klitschko bringt kein Programm mit und hat keine echte Partei hinter sich, in der die Menschen Möglichkeiten hätten, sich ernsthaft zu engagieren. Er kann es schaffen, aber bis jetzt gibt es Klitschko und dann lange nichts.

Wie könnte die EU im Konflikt helfen?

Von Cramon: Sie sollte präsent sein. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton war da, aber ihr Auftritt war kläglich, halbherzig. Sie hätte bleiben müssen, bis es von Janukowitsch ein Dialogangebot an die Opposition gibt. Die EU hätte vor Ort klarer und ausdauernder auf die Ukraine einreden müssen.

Wären Sanktionen ein Mittel, um die Situation in der Ukraine zu befrieden?

Von Cramon: Ich bin gegen generelle Sanktionen, weil sie die falschen treffen. Für geeignet halte ich personelle Sanktionen gegen einige der Politiker, die jetzt dem Volk übel mitgespielt haben und verantwortlich sind für die Polizei- und Armeeattacken. Wenn man deren Konten einfriert oder Einreiseverbote erwirken könnte, wäre es hilfreich. Man darf nicht vergessen, dass etwa die Kinder der politischen Elite auch in London, Paris oder Zürich zur Schule gehen. Wenn die Eltern keine Möglichkeit mehr haben, ein Schengenvisum zu bekommen, trifft die das.

Viola von Cramon

Als Bundestagsabgeordnete und sportpolitische Sprecherin der Grünen machte sich Viola von Cramon (43) in der vergangenen Legislaturperiode einen Namen als Verfechterin für ein Anti-Doping-Gesetz. Während und nach ihrem Studium der Agrarwissenschaften in den 90er Jahren arbeitete sie in zahlreichen internationalen Projekten mit – vor allem auch in der Ukraine. In ihrer Partei gilt sie als Expertin für Ostpolitik, gehört seit der letzten Wahl jedoch nicht mehr dem Bundestag an. Viola von Cramon ist verheiratet, Mutter von vier Kindern und lebt im niedersächsischen Radolfshausen. FOTO: Die Grünen

 
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