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Kein Gespür für ländliche Regionen
Evangelischer Pressedienst
 |  aktualisiert: 19.01.2014 19:02 Uhr

In zwei Monaten sind Kommunalwahlen in Bayern. Rund 600 Bürgermeister – das entspricht etwa einem Drittel aller zu wählenden Rathauschefs – kommen neu ins Amt. Der Präsident des Bayerischen Gemeindetags, Uwe Brandl, sieht „Herkulesaufgaben“ auf die Kommunen zukommen.

Frage: Wo liegt für Sie die größte Herausforderung für die bayerischen Gemeinden in den nächsten Jahren?

Uwe Brandl: Da nenne ich vor allem die Folgen des demografischen Wandels. Der Verlust von Familienstrukturen auch jenseits der Ballungsgebiete, die Zunahme der Single-Haushalte mit älter werdenden Menschen, die Betreuung einer stetig wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen, ohne ausreichend Personal dafür zu haben – hier tickt die Zeitbombe. Diese Veränderung schätze ich so schwerwiegend ein wie die Folgen der Industrialisierung. Nur: Die Geschwindigkeit dieses Prozesses ist wesentlich dramatischer als vor gut 100 Jahren.

Wie können sich die Kommunen vorbereiten?

Brandl: Da müssen verschiedene Ansätze verfolgt werden. Zunächst einmal geht es um die Menschen. Die Gemeinden müssen Strategien entwickeln und Strukturen schaffen, um aktive ältere Menschen, die gerade aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, beispielsweise für ehrenamtliches Engagement zu gewinnen. Dabei ist zu beachten, dass modernes Ehrenamt eher punktuell ausgerichtet ist. Der Vereinsvorsitz über Jahre hinweg ist nicht das, was diese Menschen suchen. Das Zusammenleben von Alt und Jung ist ein wichtiges Thema. Ob das in Mehr-Generationen-Häusern gelingt, da habe ich meine Zweifel. Schon innerhalb von Familien klappt es doch häufig nicht mehr zwischen den Generationen. Es kann dann funktionieren, wenn die Bewohner die gleiche Lebensphilosophie haben. In jedem Fall müssen wir gerade in den Städten und Gemeinden in der Fläche weitere Betreuungsangebote schaffen.

Die Bürger haben im Herbst neben der Landtagswahl per Volksentscheid auch betont, dass sie gleichwertige Lebensverhältnisse im Freistaat wollen. In der Verfassung heißt es nun: „Er (der Staat) fördert und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land.“ Ist das Wunsch oder Wirklichkeit?

Brandl: Tatsache ist, dass Ballungsräume – also München, Nürnberg, Augsburg und vielleicht noch mit Ach und Krach Passau, aber wohl eher Ulm jenseits der bayerischen Landesgrenze – weiter dazugewinnen werden. Wo schon viel ist, kommt noch mehr dazu, während andere Regionen ausbluten.

Meinen Sie damit Teile Ostbayerns?

Brandl: Glauben Sie nicht, diese Entwicklung beschränkt sich nur auf die Peripherie in Oberfranken. Auch Teile Schwabens haben beispielsweise mit hohen Soziallasten zu kämpfen. Ich nenne da die Allgäuer Landkreise. Touristisch geprägte Wintersportorte in Oberbayern werden aktuellen Untersuchungen zufolge bis in 20 Jahren schneefrei sein. Das Berchtesgadener Land ist davon dann betroffen. Hier merkt man es erst langsam, aber es geht schon los.

Warum wurde in der Vergangenheit nicht entschlossener reagiert, um gleichwertige Lebensverhältnisse nicht nur auf dem Papier zu haben?

Brandl: Da müssen Sie sich nur die Struktur des Landtags anschauen. Rund 70 Prozent der Parlamentarier leben in den Ballungsgebieten und sind großstädtisch geprägt. Ihnen fehlt die Sensibilität für die Dramatik der Ereignisse in den ländlichen Regionen komplett.

Was hat das zur Folge?

Brandl: In zehn bis 15 Jahren wird Bayern ganz anders ausschauen als jetzt, wenn es so weitergeht. Dieser Prozess kann noch aufgehalten werden, davon bin ich überzeugt. Aber dann muss man nicht nur Hand anlegen, sondern die Schaufel oder noch größeres Gerät.

Was sollte zum Beispiel verändert werden?

Brandl: In der Ansiedelungspolitik setzt man zu einseitig auf die großen Städte. Gerade das Landesentwicklungsprogramm schränkt mit einigen Eckpunkten eine Entwicklung im nichtstädtischen Bereich ein. „Invest in Bavaria“ setzt als verlängerter Arm des Wirtschaftsministeriums auf Ansiedlung primär in Verdichtungsräumen. Hier will man sehen, dass möglichst viele Arbeitsplätze geschaffen werden. Wo die entstehen, ist dann schon nicht mehr so wichtig – und das ist der Fehler. Denn einem US-Unternehmen, um einmal ein Beispiel zu nennen, ist es letztlich egal, wo es seinen Standort hat. Zwei Punkte sind entscheidend: eine vernünftige Verkehrsanbindung und schnelle Datenleitungen. Wenn aber zum Beispiel der Landkreis Hof gerade mal zu 60 Prozent mit schnellem Internet abgedeckt ist, merkt man schon, woran es fehlt.

Hilft der Staat nicht mit seinen Ausgleichszahlungen strukturschwachen Gebieten?

Brandl: Theoretisch schon. Die Praxis sieht so aus: 600 Gemeinden in Bayern – also ein knappes Drittel – schaffen es nicht, einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen. Die Stadt München bekommt, obwohl sie als Kommune die zweithöchsten Gewerbesteuereinnahmen in Bayern hat, 120 Millionen Euro staatliche Transferleistungen. Hier läuft etwas falsch. Denn eigentlich sollten die unterstützt werden, die es nötig haben, und nicht die, die vor Kraft kaum laufen können.

Was schlagen Sie vor?

Brandl: Einen Dienstausflug des Landtags ins nördliche Oberfranken. Die Abgeordneten sollten sich mehr vor Ort umsehen, wo den Menschen der Schuh drückt. Und Bürgermeister müssen nicht unbedingt oder nicht nur die Ansprechpartner sein. Denn die machen häufig den Fehler, dass sie ihre Gemeinde für solche Gelegenheiten herausputzen und zum Essen lieber fränkische Bratwurst anstatt Brotsuppe servieren. Die Suppe wäre der Situation angemessener.

 
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