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Ist die Mitte nur noch ein Mythos?
Von unserem Mitarbeiter Heinz Kurtzbach
 |  aktualisiert: 23.08.2013 19:32 Uhr

Wer in Deutschland Wahlen gewinnen will, der ist überzeugt: Der Weg zum Sieg führt über die Mitte. Aber wo liegt die? Und ist sie noch, was sie einmal war, oder hat die Entwicklung der vergangenen Jahre – die schrittweise gesellschaftliche Entsolidarisierung infolge der Entfesselung der Märkte, die Preisgabe sozialer Standards in der Hoffnung auf internationale Wettbewerbsfähigkeit – sie längst eingeebnet?

Die Mitte ist Halt. In der Mitte ist Ruhe, wo an den Rändern Sturm ist. Wer in der Mitte lebt, lebt angenehm: meine Familie, mein Auto, mein Haus, mein Urlaub. Ihren etwas betulichen Charme schöpft die Mitte aber auch aus ihrer Offenheit: Die Mitte gilt – galt? – als Ort der Perspektiven: für nahezu jedermann erreichbar durch Bildung, Ausbildung und Fleiß; Aufsteiger jederzeit willkommen. Die Mitte also ein deutsches Idyll, in dem man sich einrichtet, um es nie wieder zu verlassen. Das führt zu einer ausgeprägten Mentalität der Beharrung, und damit ist die gesellschaftliche Mitte auch tragende Säule der Gesellschaft – ein Stabilitätsfaktor.

Die Mittelschicht ist heterogen. Nach Definition des „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ (IW) in Köln gehört dazu, wer „mindestens einen Berufsabschluss hat und dessen Job ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit bietet“ – egal ob abhängig beschäftigt, verbeamtet oder selbstständig. Auf jeden Fall aber sollte laut der IW-Studie „jeder Mittelständler auf Dauer unabhängig von staatlichen Transfers leben“. Diesen Kriterien zufolge gehören etwa 20 Millionen, also knapp die Hälfte der deutschen Haushalte, zur Mittelschicht; also zur „Einkommensmitte“, deren jährliche Bezüge sich in der Spanne zwischen 80 bis 150 Prozent von 44 000 Euro bewegen, die hierzulande als mittleres Einkommen gelten. Zwar gleiten auch nach dieser Studie jährlich etwa 400 000 Haushalte der Einkommens-Mittelschicht in die Einkommens-Armut ab; das Institut nennt die Mitte dennoch „stabil“. Andere Wissenschaftler interpretieren diese Zahlen anders: Der Mittelbau sei eine bedrängte Gesellschaftsschicht, in der Statusunsicherheit das Alltagsgefühl prägt.

In der Mitte grassiert Angst. Die Aufsteiger von einst fürchten den Abstieg. Im krassen Widerspruch zur Studie des Kölner Instituts steht denn auch eine ähnliche Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wonach die deutsche Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends rapide auseinandergedriftet ist und die Mitte einen klar erkennbaren Schwund erleidet. Als Gründe nennt das DIW die Folgen der Globalisierung, höhere Hürden beim beruflichen Aufstieg und Hartz IV, weil durch die Agenda 2010 ein Arbeitsplatzverlust meistens den gesellschaftlichen Absturz bedeutet. Einer Erhebung der Unternehmensberatung McKinsey zufolge könnten bis 2020 zehn Millionen Deutsche aus der Mittelschicht abgestiegen sein. Der Ökonom Rudolf Hickel stellt fest: „Die gesellschaftliche Polarisierung ist in anderen Ländern größer. Aber die Geschwindigkeit, mit der die deutsche Mittelschicht wegbröckelt, hat bedenklich zugenommen.“ Das zerstörerische Potenzial gesellschaftlicher Polarisierung sei enorm, und wenn sie anhalte, wäre das eine Entwicklung mit unabsehbaren Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Struktur der Städte würde sich verändern und Elendsquartiere sich ausweiten, in denen Resignation und Zukunftspessimismus vorherrschten, soziale Unruhen nicht ausgeschlossen.

Gesellschaftliche Mitte ist freilich mehr als ökonomische Absicherung; die Mitte funktioniert auch als Hort gemeinsamer Werte und als Ort der Verständigung auf einen politischen Grundkonsens. Wenn nun die Pessimisten unter den Wissenschaftlern recht behalten und die Mitte zerbröselt: Wer füllt das Vakuum? Es wird sich alles regeln, meint der Publizist Richard Herzinger in einem Beitrag („Angst vor der leeren Mitte“) für „Zeit-online“. Die Berliner Republik mache zur Zeit die Erfahrung, dass offene Gesellschaften ohne substanzielle Mitte auskommen müssen. Auch die deutsche Gesellschaft, deren soziales und politisches Konsensmodell ihr lange eine ungewöhnliche Homogenität verliehen hatte, lerne jetzt, dass die einzige verlässliche Grundlage einer freiheitlichen Ordnung der geregelte, diskursiv und gewaltfrei ausgetragene Konflikt ist. Die stabile Mitte also – nur noch ein Mythos?

In der Praxis buhlt die Politik nach wie vor unverdrossen um die Liebe der Mitte, freilich unter fahrlässiger Vernachlässigung der Ränder; die Bindungsfähigkeit der beiden großen Parteien durch die linke und rechte Ausreißer lange Zeit absorbiert worden waren, ist ihnen jedenfalls längst verloren gegangen – auch ein Grund, sich auf vermeintlich leicht erreichbare Wählerschichten der Mittelschicht zu konzentrieren. Dabei sind sie verbal ausgesprochen einfallsreich. Gerhard Schröder entdeckte für sich die „Neue Mitte“, ohne zu sagen, wo eigentlich die „Alte Mitte“ abgeblieben ist. Und Franz Müntefering überraschte alle mit einer eigenwilligen Standortbeschreibung: „Die Mitte ist da, wo die linke Volkspartei SPD ist.“ Mitte also gleich links – ein politischer Spagat der Extraklasse; und Kanzlerkandidat Peer Steinbrück versprach, er wolle für die SPD die „Deutungshoheit in der politischen Mitte“ zurückgewinnen, woraus man schließen konnte, dass die SPD sie verloren hatte. Die Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel stellte schließlich dem Geschwurbel lapidar entgegen: „Die Mitte ist rechts von links. Wir sind die Volkspartei der Mitte.“ Und die anderen? Die FDP glaubt ohnehin, dass sie die einzig wahre Mitte verkörpert, und auch die Grünen fühlen sich inzwischen sehr wohl an diesem Ort.

Noch ist die Mitte also ein politisches Ballungsgebiet. Das große Gedränge der Parteien an diesem Ort lässt freilich die Frage zu, ob sie wegen dieses vermeintlichen Standortvorteils nicht schon allzu viel Originäres aufgegeben haben. Konkreter gefragt: Wie sozialdemokratisch ist Angela Merkels CDU, wie stark verbürgerlicht ist die SPD? Und wie reagieren die Wähler der Mitte, wenn sie auf Dauer der Angleichung der parteilichen Vorstellungen – weich gespült bis zur Unkenntlichkeit – überdrüssig werden? Spätestens wenn unübersehbar ist, dass ihre Vereinnahmung durch die Parteien ihren galoppierenden Verfall nicht stoppt, wird die Mitte für die etablierte Politik ein ungemütlicher Ort. Wahlen müssen dann anderswo gewonnen werden. Aber wie? Ein Debattenthema für die politischen Salons.

 
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    Spätestens mit Guttenberg hat sich die Mitte selbst abgeschafft. Verstorben am Egoismus,
    gelitten unter der Plagiatsaffäre, beerdigt durch die Raffgier des Adels.
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