Der französische Politologe Alfred Grosser spricht im Interview über die deutsch-französischen Beziehungen und seinen Vorschlag, wer den Friedensnobelpreis für die Europäische Union entgegennehmen sollte.
Alfred Grosser: Ich freue mich sehr darüber. Aber es handelt sich nicht um eine Belohnung, sondern eine Ermutigung: Ihr müsst weitermachen und noch mehr tun, sonst seid ihr den Ideen der Gründung nicht treu. Eine Belohnung hätte eigentlich an den früheren französischen Außenminister Robert Schuman gehen müssen für seine Europa-Erklärung am 9. Mai 1950 und seinen beispiellosen Mut. Glücklicherweise hörte er nicht auf Umfragen. Wenn man fünf Jahre nach Kriegsende die Franzosen gefragt hätte, ob sie eine egalitäre Partnerschaft mit einem Teil Deutschlands wollten, hätten alle Nein gesagt. Er wagte es und die Zustimmung war enorm.
Grosser: Er fehlt gewiss, aber es hat nach Schuman auch andere politische Gespanne gegeben, die gut funktioniert haben, wie Präsident François Mitterrand, Bundeskanzler Helmut Kohl und Kommissionspräsident Jacques Delors. Ihnen verdanken wir den Euro, den alle zuerst für unmöglich hielten. Das Bundesverfassungsgericht hat bis heute nicht verstanden, dass es den Euro gibt, wenn es andauernd von Souveränität spricht. Es gibt keine deutsche Währung mehr – kann man seine Souveränität noch mehr aufgeben? Das Bundesverfassungsgericht lebt in der ständigen Angst, dem Europäischen Gerichtshof untergeordnet zu sein, wie die Bundesbank unter der Europäischen Zentralbank.
Grosser: Mein Vorschlag ist nicht ganz ernst gemeint, aber mit ernstem Hintergrund: der Präsident des Europäischen Gerichtshofs. Das ist die transnationale Institution, die mehr für die Einheit Europas getan hat als alle anderen. In Deutschland wie in Frankreich wird der Europäische Gerichtshofs immer noch kleingeschrieben. Er sollte jetzt mit dem Nobelpreis vollends anerkannt werden. Es hat auch den Vorschlag gegeben, 27 Kinder aus je einem Mitgliedsstaat sollten den Preis entgegennehmen. Auch das wäre gar nicht dumm.
Grosser: Ich erwarte mehr Ehrlichkeit. Weder Bundeskanzlerin Angela Merkel noch Präsident François Hollande sind aufrichtig, wenn sie sagen, sie wollen mehr gemeinsame Institutionen. Frau Merkel sagt, die Bankenaufsicht soll alle Banken überwachen – aber nicht die deutschen! Die geplante Fusion von EADS und BAE ist nicht gelungen, weil sich Deutschland gesperrt hat. Das ist keine europäische Entscheidung, sondern eine im Namen der Bundestagswahlen nächstes Jahr und der bayerischen Industrie. Dabei wäre diese Fusion eine tolle Gelegenheit für Europa gewesen, sich weltweit aufzustellen. Und in Paris ist man zwar für gemeinsame Institutionen, aber wenn je eine Institution Frankreich sanktionieren würde, gäbe es einen Aufschrei des Nationalismus. Hollande lässt sich von der linken Opposition, auch innerhalb seiner eigenen Partei, blockieren und will ganz im traditionellen Sinne der französischen Politik politisch führen. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte, Frankreich solle politisch führen und meinte damit, man muss Frankreich den Eindruck geben, es führe.
Grosser: Ja, aber der Élysée-Vertrag war der Höhepunkt einer Entwicklung, nicht der Beginn. Mich stört, wenn immer behauptet wird, mit Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer hätte alles angefangen. Politisch begann alles im Namen des Anti-Hitlerismus. Gesellschaftliche Beziehungen gab es ab 1946 mit den ersten Austauschen. Deutschland und Frankreich sind heute jeweils so stark miteinander verflochten wie mit keinem anderen Land. Und selbst wenn es oben schlecht geht, läuft es unten gut – ob zwischen den Feuerwehrleuten, den Forschungsinstituten oder den Universitäten. Im Élysée-Vertrag stehen zwei positive Dinge: Die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks und der Zwang, sich zu begegnen. Man begegnet sich, man belügt einander ein bisschen und spielt Freundschaft, selbst wenn sie nicht da ist.
Grosser: Das war verdienstvoll, aber nichts im Vergleich zu Robert Schuman. De Gaulle war ein guter Verkäufer. Die beste Rede hielt er in einer Stahlfabrik im Ruhrgebiet, die er begann mit „Meine Herren!“ Die Stahlarbeiter hatten das noch nie gehört. Die Begeisterung war enorm. Es hieß damals, er kam als Präsident der Franzosen und fuhr nach Hause als Kaiser von Europa mit Sitz in Aachen. Dabei hätte de Gaulle nichts Supra-Nationales gewollt. Sein Ziel war auch gar nicht Freundschaft mit Deutschland, sondern der Versuch, es vom amerikanischen Einfluss fernzuhalten. Das ist missglückt.
Grosser: Es sind zwei ruhige Menschen, die sicherlich ernst miteinander verhandeln. Niemand sieht eine Lösung für das Problem, gleichzeitig zu sparen und die Wirtschaft so zu entwickeln, dass es wieder Geld gibt, um die Schulden zu bezahlen. Ich zitiere gerne Bundespräsident Joachim Gauck: Politik ist die Entscheidung für die weniger schlechte Lösung. Es kann schlechtere geben oder bessere, aber eine gute Lösung gibt es nicht.
Alfred Grosser
Der 87-Jährige möchte nicht als „deutsch-französischer“ Politologe und Historiker bezeichnet werden – zwar sei er in Frankfurt geboren, aber Franzose. Noch als Junge emigrierte er auf der Flucht vor der Judenverfolgung der Nazis mit seiner Familie nach Frankreich, wo er zu einem anerkannten Politikwissenschaftler und Publizisten wurde. Vor allem setzt er sich mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich auseinander, gilt aber auch als scharfer Kritiker der israelischen Politik, die den Antisemitismus befördere. Grosser hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, das Große Verdienstkreuz und in diesem Jahr den Deutsch-Französischen Medienpreis. Text: Hol