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„Hitler strebte den Kriegsbeginn schon für 1938 an“
„Hitler strebte den Kriegsbeginn schon für 1938 an“
reda
 |  aktualisiert: 29.08.2014 19:17 Uhr
Frage: Welche Rolle spielt für die Deutschen das Datum 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs heutzutage?

Andreas Wirsching: Der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs überlagert in diesem Jahr das Gedenken an die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Das ist neu, weil in der deutschen Geschichtsbetrachtung bislang meist der Zweite Weltkrieg dominiert hat. Allerdings hat in der Erinnerungskultur das Datum 8. Mai 1945 als Tag des Kriegsendes immer eine größere Rolle gespielt, als der 1. September 1939. Und auch der 9. November 1938 mit der Reichspogromnacht hatte eine stärkere Bedeutung in der Erinnerungskultur.

Die auch im Zusammenhang mit 1914 geführte Debatte um die Entstehung eines Kriegs erscheint vor dem Hintergrund heutiger Krisen wieder aktuell…

Wirsching: Das hat vor allem zu tun mit dem Buch von Christopher Clark „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.“ Ich sehe diese Debatte allerdings kritisch. Das Buch hat in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck ausgelöst, Deutschland habe an der Entstehung des Ersten Weltkriegs rückblickend keine größere Verantwortung gehabt als die anderen Nationen. In dem Zusammenhang wird gern das berühmte Zitat des damaligen britischen Premierministers David Lloyd George angeführt: „Wir sind alle hineingeschlittert.“ Ich halte diese These für sehr problematisch, weil man damit die besondere Verantwortung des Deutschen Kaiserreichs an der Kriegsentstehung infrage stellt. Für die Geschichtswissenschaft wäre das ein Rückfall in die Fünfziger Jahre.

Wie eindeutig ist dagegen die Kriegsschuldfrage 1939?

Wirsching: Beim Zweiten Weltkrieg gibt es keine Zweifel, dass er von den Deutschen entfesselt worden ist, wobei Hitler persönlich hier eine wichtige Rolle gespielt hat. Die NS-Führung hat jahrelang gezielt auf den Krieg hingearbeitet. Hitler strebte schon 1938, als es um das Sudetenland und die Tschechoslowakei ging, den Krieg an, aber ihm kam gewissermaßen das Münchner Abkommen dazwischen. Damals gab es in der Reichswehrspitze erhebliche Bedenken, dass Deutschland in eine ähnliche Situation geraten könnte wie im Ersten Weltkrieg und einen Zwei-Fronten-Krieg führen müsste. Als Hitler im Frühjahr 1939 den Befehl zur Vorbereitung des Polenfeldzugs gab, hatte er die Hoffnung, noch einmal die Westmächte raushalten zu können. Er bereitete den Hitler-Stalin-Pakt und dessen Geheimprotokoll zur Aufteilung Polens vor.

War Hitler fest zum Krieg gegen die Sowjetunion entschlossen, als er den Nichtangriffspakt unterzeichnete? War der Hitler-Stalin-Pakt eine Finte?

Wirsching: Die Frage kann man eindeutig mit Ja beantworten. Hitler äußert sich schon in „Mein Kampf“, Reden und anderen Quellen entsprechend. Auch wenn er nie präzise sagte, wo genau der von ihm propagierte „Lebensraum im Osten“ sein sollte, ist es unstrittig, dass das Fernziel Hitlers die Ukraine beziehungsweise der westliche Teil der Sowjetunion war, der dem NS-Regime auch immense Rohstoffvorkommen versprach. Insofern war der Hitler-Stalin-Pakt ein taktisches Element, das den Zwei-Fronten-Krieg verhindern und den Überfall auf Polen ermöglichen sollte. Für Westeuropa war es ein Schock, dass die ideologischen Hauptfeinde des Faschismus' und des Kommunismus' gemeinsame Sache machen.

Briten und Franzosen erklären nach dem Überfall auf ihren Bündnispartner Polen Deutschland den Krieg. Sie halten sich mit einem Angriff aber zurück. Ging Hitlers Strategie zunächst auf?

Wirsching: Trotz Bündnispflicht gab es ein Stellungsverharren bis 1940. Der Krieg war aber grundsätzlich eröffnet. Hitlers Ziel war es, die Westmächte noch einmal rauszuhalten, aber der Rubikon war definitiv überschritten, vor allem aus der Sicht Großbritanniens. Im Herbst ’39 war dort Premierminister Neville Chamberlain definitiv am Ende der Möglichkeiten seiner Appeasement-Politik, und Winston Churchill, der schon das Münchner Abkommen abgelehnt hat, kam als der neue starke Mann. Jetzt war der Krieg unvermeidbar.

„Beim Zweiten Weltkrieg gibt es keine Zweifel, dass er von den Deutschen entfesselt worden ist.“
Andreas Wirsching zur Schuldfrage
War den Beteiligten klar, dass ein neuer Weltkrieg anbricht?

Wirsching: Das deutsche Militär hatte vor 1939 eine Heidenangst vor einem Zwei-Fronten-Krieg und wollte vor allem einen Krieg mit den Westmächten vermeiden. Das ist ein Zeichen dafür, dass im deutschen Militär erahnt und erkannt wurde, was möglicherweise auf dem Spiel stand. Das wurde dann überdeckt durch den Hitler-Stalin Pakt und auch durch den Umstand, dass Hitler bis zum Jahr 1940 alles gewann, was es zu gewinnen gab. Der Sieg über Frankreich machte potenzielle Bedenkenträger in der Wehrmacht mundtot und schlug ihnen die Argumente aus der Hand. Den Briten war eher bewusst, dass das keine kurze Angelegenheit wird, sondern man in einen großen Krieg zieht. Churchills berühmte „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede ist ein Beispiel dafür, dass man wusste, was zu erwarten war…

War der Polenfeldzug eine Blaupause für Hitlers Kriegsführung?

Wirsching: Es ist in Anführungszeichen ein sogenannter „Blitzkrieg“: Ein überfallartiger schneller Schlag, der binnen sechs Wochen gegen einen schwachen Gegner entschieden ist, zumal auf der anderen Seite die Rote Armee in Ostpolen einmarschiert. Das Ziel, mit überwältigender militärischer Kraft schnelle Siege zu erreichen, ist für Hitlers Kriegsführung stilbildend. Das hat er in Frankreich fortgesetzt. Das war für Großbritannien auch geplant, und selbst das Unternehmen Barbarossa, der Feldzug gegen die Sowjetunion, war als „Blitzkrieg“ geplant. Aber für einen längeren Krieg war die deutsche Rüstungswirtschaft nicht optimal vorbereitet. Es mangelte an der tief gestaffelten Rüstung, und das war auch ein Grund für das Blitzkriegskonzept.

War der Polenfeldzug der Anfang der Strategie des Vernichtungskriegs, mit Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung?

Wirsching: Das beginnt im Polenfeldzug. Es werden Zehntausende Zivilisten ermordet, Polen und Juden. Zugleich sollten Polen und Juden aus den Teilen des polnischen Staatsgebietes vertrieben werden, die das Deutsche Reich annektierte. Dabei wird auch Mord als Mittel in Kauf genommen. Die Hauptstoßrichtung war aber zunächst die Vertreibung der Juden und ihre Ghettoisierung. Polen hatte damals die mit Abstand größte jüdische Bevölkerungszahl. Die systematischen Mordaktionen, die wir als Holocaust im engeren Sinne verstehen, beginnen 1941.

Wie erlebt man als Historiker aktuelle Krisen, wie im Fall Ukraine? Lernen Mächtige zu wenig aus der Geschichte?

Wirsching: Die berechtigte Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, und wer daraus lernt, ist nicht einfach zu beantworten. Dass es oft nicht funktioniert, zeigt die Geschichte selbst. Gegenwärtig beherrschen die klassischen Themen Macht, Nation und Demokratie, Nationalstaat und Minderheiten, erneut die Tagesordnung. Das sind die großen Themen des 20. Jahrhunderts und dass sie jetzt so massiv zurückkehren, macht einen als Historiker etwas beklommen.

Wie ernst beurteilen Sie die Lage?

Wirsching: Ich halte die Ukraine-Krise für sehr besorgniserregend. Ich befürchte, wir könnten eine Situation bekommen, wie wir sie in Jugoslawien hatten. Es werden Gegensätze historisch konstruiert und dann ethnisiert. Am Ende sind die Menschen vor die Frage gestellt: Bin ich Russe oder bin ich Ukrainer? Das ist ein Sprengsatz, der durch die undurchsichtige Rolle Russlands fundamental verschärft wird. Mir bereitet das Sorgen, und ich finde es frustrierend, weil im 21. Jahrhundert ganz andere Entwicklungspotenziale denkbar wären.

 
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