Die Alarmglocken schrillen. Das Bundesverfassungsgericht stellt die Legalität des Beschlusses der Europäischen Zentralbank (EZB) infrage, unbegrenzt Staatsanleihen maroder Staaten zu kaufen, wenn deren Marktzinsen „überhöht“ sind: Staatsfinanzierung ist der EZB verboten. Was treibt die überhaupt dazu?
Private Kapitalanleger fordern umso höhere Zinsen für Staatsanleihen, je höher das Risiko ist, dass sie ihr Geld durch eine Staatspleite verlieren. Nun belasten hohe Zinszahlungen die Staatshaushalte zusätzlich und verstärken so die Gefahr der Staatspleite. Ökonomen sagen: Dies zwingt die Staaten zu Reformen, so dass die Pleitegefahr und damit die Zinsen wieder sinken.
Die Politiker der maroden Staaten – allen voran Spanien und Italien – und nun auch die EZB sehen das anders. Sie sagen: Die zusätzlichen Ausgaben für „überhöhte“ Zinsen machen alle Anstrengungen zunichte, die Staatsdefizite durch Ausgabenkürzungen abzubauen. Die Pleitegefahr steige dadurch sogar, und das gefährde die Existenz des Euros. Deshalb will die EZB nun die Staatsanleihen zu – von ihr definierten – „vertretbaren“ Zinsen kaufen.
Nur: Wer hat recht? Italiens Probleme traten 2011 offen zutage. Seitdem stiegen die Zinsen für Staatsanleihen: Im August 2012 betrugen sie 5,8 Prozent bei zehn-, 4,8 Prozent bei fünf- und 2,8 Prozent bei einjähriger Laufzeit. Spaniens Zinsen sind nur wenig höher. Ist das „überhöht“? Wohl kaum.
Mehr noch: Die Gesamtbelastung durch Zinsen setzt sich zusammen aus den Zinsen für alle noch nicht getilgten Staatsanleihen. Der Großteil sind alte Anleihen, die vor 2011 ausgegeben wurden und für die daher niedrige Zinssätze gelten. Im Durchschnitt muss Italien nach Berechnungen des Ifo-Instituts derzeit 3,4 Prozent zahlen. Von „überhöhten“ Zinsen kann also keine Rede sein.
Natürlich wird die Gesamtbelastung steigen, wenn laufend alte Anleihen mit niedrigen Zinsen durch neue mit höheren Zinsen ersetzt werden. Aber das dauert Jahre – Jahre, die für die dringend nötigen Reformen genutzt werden könnten. Und diese Reformen würden das Pleiterisiko und damit die Zinsen wieder sinken lassen.
Warum dann der EZB-Beschluss? Gerade in Italien sind die Reformen weitgehend zum Erliegen gekommen. Italien hätte noch Zeit für die nötigen Reformen, ist dazu aber nicht fähig oder nicht bereit. Nun löst die EZB die Probleme: Wenn mangels Reformen die Marktzinsen weiter steigen, kauft die EZB die Anleihen zu „vertretbaren“ Zinsen.
Zwar sagt die EZB, sie wolle nur Anleihen von Staaten kaufen, die harte Reformen zusagen. Doch wie glaubhaft ist das? Und was tut sie, wenn die Zusagen nicht eingehalten werden? Den Kauf von Staatsanleihen stoppen? Dann wäre der fragliche Staat wieder allein auf den Kapitalmarkt angewiesen. Dort würden – gerade weil die Reformen verschleppt wurden – die Zinsen und damit die Pleitegefahr erst recht hochschießen, die Existenz des Euros also erst recht bedroht. Das aber will die EZB ja keinesfalls zulassen: Ihr oberstes Ziel ist es, den Euro zu erhalten.
Daher ist die Drohung „ohne Reformen keine Hilfen“ – obwohl zur Disziplinierung unverzichtbar – eine leere Drohung. Das wissen die maroden Staaten und reformieren von vornherein nicht so, wie es nötig wäre. Es gibt ja billigen Kredit – unbegrenzt.
Und die Folgen? Die EZB kauft die Staatsanleihen, indem sie Geld druckt. Dadurch steigt die Geldmenge weiter an. Die ist bereits stark aufgebläht. Das birgt ein gewaltiges Inflationspotenzial. Die Inflation ist nur noch nicht ausgebrochen, weil in fast allen Euro-Ländern Rezession herrscht. Wenn aber die Konjunktur anzieht, kommt sie.
Aufgabe der EZB ist es, das viele Geld dann wieder aus dem Verkehr zu ziehen. Dafür muss sie die Notenpresse stoppen und konsequent die Zinsen anheben. Höhere Zinsen aber bedrohen die maroden Staaten; es drohen Staatspleiten und damit der Kollaps des Euros.
Selbst die Bundesbank befürchtet: Die EZB wird daher die Inflation nicht entschieden bekämpfen, sondern die Zinsen niedrig halten, damit sich diese Staaten weiter billig verschulden können. Denn ihr oberstes Ziel ist ja, den Euro zu erhalten. Das aber droht ebendiesen Euro zu einer Weichwährung in Richtung der früheren Lira zu machen.
Was ist wichtiger: der Schutz der Bürger und ihrer Ersparnisse vor dem Inflationsrisiko oder die Stützung wankender Staaten zum Schutz des Euros unter Inkaufnahme von Inflation?
Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten.
Lüder Gerken
Der 54-jährige Ökonom studierte Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft. Anschließend leitete Lüder Gerken von 1991 bis 2001 das Walter-Eucken-Institut in Freiburg im Breisgau. Er habilitierte sich 1998 an der Universität Bayreuth. Von 2001 bis 2004 war Gerken Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin. Seit 1999 ist er Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Ordnungspolitik, seit 2006 Direktor des Centrums für Europäische Politik. Die Stiftung wurde 1999 gegründet. Sie versteht sich als unabhängige Denkfabrik. Dem Kuratorium der Stiftung gehören Altbundespräsident Roman Herzog und der frühere Bundesbankchef Hans Tietmeyer an. Auch in der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft war Gerken aktiv. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen nationale und internationale Ordnungspolitik und europäische Integration. FOTO: ceu