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Gastbeitrag Sind wir Christen nicht im Grunde Teflon-Christen?
Von unserem Gastautor Ernst Engelke
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:33 Uhr

Manchmal staune ich, wie gelassen selbstverständlich sich Menschen mit der Bibel auf ihrem Schreibtisch und dem Kreuz an der Wand fotografieren lassen und von einem christlichen Land sprechen, in dem wir leben. Und dann frage ich mich: Wird dort die Bibel jemals aufgeschlagen und wirklich gelesen? – Wie gehen wir mit den radikalen Forderungen Jesu um? Angesichts dessen, was alles in einem „christlichen Land“ geschieht, frage ich: Sind wir Christen nicht im Grunde Teflon-Christen? Richten wir nicht eine Firewall auf, um uns vor Jesu Ansprüche zu schützen? Oder entschärfen wir das Evangelium, indem wir von einem „christlichen Menschenbild in seiner abendländisch-aufgeklärten Prägung“ reden?

Worauf basiert eine christliche Werteorientierung, über die nun in Bayern diskutiert werden soll? Politiker behaupten, christliche Grundwerte seien aus dem christlichen Menschenbild abzuleiten. Dieses christliche Menschenbild gibt es jedoch so nicht, da in den Evangelien und Briefen immer das Bekenntnis zu Christus im Mittelpunkt steht. Diese Texte bezeugen einen Christus, der im gläubigen Bekenntnis die Erinnerung an den „irdischen" Jesus von Nazareth bewahrt, der den Menschen seiner Zeit auf eine besondere Weise begegnete. Insofern ist die Orientierung an seiner Art, den Menschen zu begegnen, Teil des zentralen Christusbekenntnisses. Es gibt kein Bekenntnis ohne den irdischen Jesus dahinter. Das Kreuz an der Wand oder die Bibel auf dem Schreibtisch bleiben als Bekenntnis leer, wenn damit nicht auch der Wille verbunden ist, den Menschen so zu begegnen, wie es der irdische Jesus getan hat.

Bei den Evangelisten und in den Briefen der Apostel finden sich keine Aussagen, dass Kreuze aufgehängt, Fremde abgeschoben werden müssen oder Kopftücher nicht getragen werden dürfen. Suizid und Homosexualität werden dort auch nicht verurteilt. Vielmehr verlangt Jesus, wie wir uns zu verhalten haben. Insbesondere Menschen, Kirchen und Parteien, die sich christlich nennen, müssen sich daran messen lassen.

Mit großem Respekt lese ich Jesu Ankündigung vom Gericht des Menschensohnes über die Völker (Matthäus 25, 31-46) und sehe mich und uns alle dadurch infrage gestellt. Danach werden alle Völker zum Gericht vor dem Menschensohn (Eigenname Jesu) versammelt und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Dann wird er die einen in sein Reich aufnehmen und andere verfluchen und zum Teufel jagen: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.“

Dann werden sie sich rechtfertigen: „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?“ Darauf wird er ihnen antworten: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“

Vor diesem Hintergrund gilt es, unser eigenes Verhalten zu prüfen:

Waren Menschen in unserem Land hungrig und wir haben ihnen nichts zu essen gegeben? Sofort fallen mir die Armutsberichte ein: Viele Kinder sind arm und viele Menschen müssen sich ihre Lebensmittel von den Tafeln holen, weil ihre Rente oder Hartz IV nicht ausreicht. Zugleich denke ich an die Menschen, die sich in Politik und Verwaltung ungeniert finanziell lukrative Pöstchen zuschieben.

Waren Menschen durstig und wir haben ihnen nichts zu trinken gegeben? Ich denke an den Bildungsdurst junger Menschen und ihre ungleichen Chancen zu studieren, an die hohen bürokratischen Hürden bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen anderer Länder.

Waren Menschen fremd und wir haben sie nicht aufgenommen? Ich erschrecke über die Feindseligkeit (was für ein Wort!) gegenüber fremden Menschen in unserem christlichen Land, wenn sie als Taugenichtse, Schmarotzer oder Feinde angesehen werden und christliche Politiker eine erbarmungslose Abschiebepraxis fordern. Wie wollen Bischöfe vor Gottes Angesicht bestehen, wenn sie „Andersgläubige“ und „wiederverheiratete Geschiedene“ von der Tischgemeinschaft mit Jesus ausschließen?

Waren Menschen nackt und wir haben ihnen keine Kleidung gegeben? Reiche residieren in ihren Luxusvillen und die „Geringsten“ leben unter Brücken. Hausbesitzer verlangen so hohe Mieten, dass Erzieherinnen und Polizisten sie nicht bezahlen können. Und ich denke an die „Gesetze zu unserem Schutz“, die uns immer mehr entblößen. Vor allem bedrückt mich, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung bei ihrer Aufnahme in einer Klinik ihres Datenschutzes gänzlich beraubt werden sollen.

Waren Menschen krank und wir haben sie nicht besucht? Wie kann es sein, dass in einem christlichen Land Pflegenotstand herrscht? Alte und pflegebedürftige Mitmenschen in Heime abgeschoben, ihre Pflegenden ausgebeutet und obendrein noch abgewertet werden? Geld kann nicht pflegen und ersetzt keine Humanität.

Waren Menschen im Gefängnis und wir haben sie nicht besucht? Mir fallen nicht nur die Justizvollzugsanstalten ein, sondern auch die „Gefangenen“ in „geschlossenen Anstalten“, in denen Menschen mit geistigen, körperlichen oder psychischen Behinderungen leben. Mit den Jahren bekommen sie kaum noch Besuch und bleiben mit ihren Betreuern unter sich.

Niemand kann sich heute mit der Behauptung entziehen, die Not der „Geringsten“ nicht gesehen zu haben. Den „Geringsten“ können wir nicht nur täglich begegnen, sondern wir begegnen ihnen auch täglich. Ja, wir werden geradezu mit Informationen über deren Not und Leid überflutet: Der Alltag und die sozialen Medien lassen keine Ausrede mehr zu.

Es ist üblich, „die anderen“, „das System“, „die Politik“ oder „die Verwaltung“ für Armut, Missstände und Feindschaften verantwortlich zu machen. Doch Jesus richtet sich immer persönlich an mich und gleichzeitig immer auch an „die anderen“, „das System“, „die Politik“ sowie an das staatliche und behördliche Handeln: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. (…) Alles nun, was ihr wollt, dass Euch die Leute tun, dass sollt auch ihr Ihnen tun“ (Matthäus 7, 1-12).

Ernst Engelke

Der Autor zahlreicher Fachpublikationen (Jahrgang 1941) studierte Theologie, Pädagogik und Psychologie und bildete sich weiter in Psychotherapie. Während seines Studiums arbeitete er in der Krankenpflege. Von 1980 bis 2007 war Ernst Engelke Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule in Würzburg, zuvor neun Jahre lang Klinikseelsorger. Seit 2001 engagiert er sich in der Palliativakademie und auf den Palliativstationen des Juliusspitals Würzburg. Zuletzt erschien sein Buch „Die Wahrheit über das Sterben“. Er führt Fortbildungen für Mitarbeiter von Sozial- und Palliativstationen, Hospizen, Altenheimen und Hospizvereinen durch.
 
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Kommentare
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  • Rechtspopulist
    Demnach wird Gott uns dereinst, wenn man die Bibel ernst nimmt, alle verfluchen und zum Teufel jagen. Eine wirklich menschenfreundliche Religion.

    Hätten wir die radikalen Forderungen Jesu (die über das im Beitrag beschriebene noch weit hinausgehen) in der Vergangenheit erfüllt, hätte sich niemals Wohlstand entwickelt und wir würden heute noch durchschnittlich höchstens dreißig werden. Denn ohne das Gewinnstreben des einzelnen funktioniert keine wirtschaftliche Entwicklung.
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