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Gastbeitrag: Geschichte ist keine Wippschaukel
reda
 |  aktualisiert: 11.08.2014 18:47 Uhr

Das ist ein Waffenstillstand für 20 Jahre“ – so kommentierte der französische Marschall Ferdinand Foch den Versailler Vertrag von 1919. Damit sollte er fast auf den Tag genau recht behalten. Was er nicht voraussehen konnte, war, dass der „Kriegsschuldparagraph“ nach fast einhundert Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft offenbar noch in Kraft ist.

1961 legte Fritz Fischer sein Buch „Griff nach der Weltmacht“ vor. Seine These einer gezielten Kriegsentfesselung durch Berlin, um die Herrschaft über den Kontinent zu erringen, prägte eine Generation von Historikern. Fischers Gegner entwickelten die Theorie des „kalkulierten Risikos“. Demnach verfolgte die Reichsleitung in der fünfwöchigen „Julikrise“, die auf den Mord an Franz Ferdinand am 28. Juni in Sarajevo folgte, ein diffiziles Kalkül. Es war nach Prioritäten abgestuft und schwankte zwischen drei Optionen: einem diplomatischen Erfolg, um die sogenannte Tripleentente auseinanderzusprengen; einer Lokalisierung des serbisch-österreichischen Konflikts; und einem Präventivkrieg, den man 1914 noch gewinnen könne, drei Jahre später nicht mehr.

Der berüchtigte Blankoscheck

Beide Thesen ließen an der Generalverantwortung des Deutschen Reiches für die Kriegsauslösung keinen Zweifel. Der berüchtigte Blankoscheck an Österreich-Ungarn vom 5. Juli heizte die Situation an, führte zur Blockierung aller Vermittlungsversuche und endete – gemäß des Schlieffenplans – im Zweifrontenkrieg.

Die methodische Problematik geriet dabei aus dem Blick. Die „Julikrise“ wurde nicht nur von Berlin befeuert. Sie war ein verbissenes diplomatisches Ringen zwischen sechs rivalisierenden Mächten. Hier trafen mehrere Krisenkalküle aufeinander. In diesem komplizierten Aktions-Reaktions-Schema bestimmte keine Macht allein den Kurs. Die Fokussierung auf die deutsche Strategie führt somit zur Kurzsichtigkeit. Eine solchermaßen verzerrte Optik ist dem Charakter internationaler Politik nicht angemessen.

Das muss man im Blick haben, wenn man den Furor erklären will, den die Anhänger von Fritz Fischer derzeit in den deutschen Medien veranstalten. Sie fürchten um ihre Deutungshoheit und gebärden sich, als wären sie Sachverständige vor dem Pariser Tribunal von 1919, das die alleinige deutsche Kriegsschuld festschrieb.

Die Reaktion fällt deshalb so scharf aus, weil die angelsächsische Forschung nach 100 Jahren das methodische Labyrinth endlich verlassen hat und einen multiperspektivischen Erklärungsansatz vorlegt. Die Ergebnisse der Studien von Christopher Clark, Margaret MacMillan und Sean McMeekin, denen sich von deutscher Seite noch Herfried Münkler zugesellt, lassen sich wie folgt zusammenfassen.

Erstens gab es drei Blankoschecks, also die Zusage unbedingter Bündnistreue, auch für den Fall einer nicht beherrschbaren Auseinandersetzung unter den widerstreitenden Machtblöcken: den von Berlin an Wien, den von Paris an St. Petersburg und den von St. Petersburg an Belgrad. Alle drei bewirkten die Eskalation der „Julikrise“, und alle führten sie in die Einbahnstraße zum Krieg.

Zweitens brachten Frankreich und Russland im Krisenkatalysator Balkanraum einen „geopolitischen Zündmechanismus“ (so der australisch-britische Historiker Christopher Clark) in Stellung. Serbien bekam damit die Zündschnur für die große Auseinandersetzung in die Hand.

Bereits zwei Tage nach dem Attentat, am 30. Juni, setzte Russland den Countdown zum Krieg in Gang. Der Zar verfügte die Lieferung von über 120 000 Gewehren und 120 Millionen Schuss Munition an Serbien. In der Folge versicherte man Belgrad des unbedingten Beistandes, begann Sondierungen in Paris und London und traf Vorkehrungen zum Beginn der Mobilmachung.

Frankreich hatte hierfür in den letzten Jahren das Sprungbrett gezimmert, indem es das seit 1892 bestehende Bündnis mit Russland aggressiv ausgestaltete. Das Ziel war, Russland instand zu setzen, von sich aus aktiv zu werden und den Schwerpunkt seiner Aufmarschpläne von Galizien im Süden auf Ostpreußen im Westen zu verlagern. Damit sollte Deutschland im Ernstfall in einen gleichzeitigen West- und Ostkrieg gezwungen werden. Deshalb sorgte man mit den bis dahin höchsten Darlehen der Finanzgeschichte für eine ungeheure Aufrüstung des russischen Heeres; deshalb liefen die Radien der neu errichteten vier strategischen Bahnlinien alle in Richtung deutscher Grenze; und deshalb hatte man die Russen auf ein Datum zur Kriegsfertigkeit verpflichtet. Spätestens am 15. Tag nach Beginn der Mobilmachung mussten sie in der Lage sein, in voller Heeresstärke gegen Deutschland vorzugehen.

Aus der Nabelschau herausgeführt

Schließlich fiel England in der „Julikrise“ als neutraler Vermittler aus und konnte sein Gewicht nicht zugunsten des Friedens in die Waagschale werfen. Ursächlich hierfür war die Erkenntnis, dass das global agierende Russland den eigenen Interessen dienlicher war als das auf den Kontinent beschränkte Deutsche Reich. Deshalb räumte man dem Zarenreich freie Hand zum Griff nach den Meerengen bei Konstantinopel ein, um es von Bastionen des Empires in Asien fernzuhalten. Auch dies trug zur Verschärfung des Kriegsszenarios auf dem Balkan bei.

Was bleibt als Fazit?

Zum einen ist es das Verdienst von Clark und anderen, die deutsche Geschichtswissenschaft aus der Nabelschau herausgeführt zu haben. Zum anderen geht die Frage nach der sogenannten „Kriegsschuld“ in die Irre. Die Frage lautet vielmehr: Welcher Akteur wirkte deeskalierend, wer wollte den Krieg vermeiden, auch um den Preis eigenen Nachgebens. Die Antwort lautet: Keine der Mächte war dazu bereit. Deshalb verteilt sich die Verantwortung auf mehreren Schultern.

Die Apologeten Fischers müssen begreifen, dass Geschichte keine Wippschaukel ist. Wenn man sie auf eine Seite herabdrückt, hebt man die andere nicht zur Seite der Friedenswahrung empor.

Rainer F. Schmidt

Der 59-Jährige ist Professor für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg. Schmidt ist unter anderem Autor von „Rudolf Heß. Der Flug nach Schottland vom 10. Mai 1941“, und von „Der Zweite Weltkrieg. Die Zerstörung Europas“ und von „Otto von Bismarck. Realpolitik und Revolution“.

Im Wintersemester 2014/15 findet am Institut für Geschichte eine Vortragsreihe zum Ersten Weltkrieg statt. Der Titel von Rainer F. Schmidts Vortrags am 4. Dezember lautet: „Frankreich und der Schlieffen-Plan – militärische und bündnispolitische Kriegspräparation vor dem Ersten Weltkrieg“. FOTO: Robert Emmerich, Uni

 
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