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Gastbeitrag: G9 ist nicht besser als G8
Von unserem Gastautor Heinz Reinders
 |  aktualisiert: 10.07.2014 19:26 Uhr

Schon seit jeher hat sich das Bildungsbürgertum vehement für den Erhalt „seiner Schulform“, für das Gymnasium eingesetzt. Sei es beim Streit um die Einführung von Gesamtschulen in den 1970er Jahren oder der Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit aller Kinder in Hamburg 2010 – jedes Mal setzte sich im Kern der Erhalt des Gymnasiums durch. Und nun streitet die Schar der Gymnasial-Alumni in Bayern für die Rückkehr zum G9.

Und in Bayern sind die Freien Wähler im Landtag allemal dem Bildungsbürgertum zuzurechnen. Insgesamt 13 der 19 Fraktionsmitglieder im Landtag haben das Abitur. Die Freien Wähler sind Initiatoren des Volksbegehrens gegen das G8. Der französische Gerechtigkeitsphilosoph Pierre Bourdieu sprach von der Illusion der Chancengleichheit und den feinen gesellschaftlichen Unterschieden, durch die die gesellschaftliche Elite ihren Status quo zu erhalten versuche. In Bayern hat ein Akademikerkind eine sechs Mal höhere Chance auf einen Gymnasialbesuch als das Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Das sind schon recht grobe „feine Bildungsunterschiede“, die im Übrigen auch nie zu einem Volksbegehren führten. Wer wird wohl für das Volksbegehren ins Rathaus gehen?

Als Argumente für das G9 werden Schulstress der Kinder, Freizeitmangel, schlechte Leistungen und ein völlig unausgewogener Lehrplan angeführt. Um mit Letzterem zu beginnen: Der Lehrplan für das G8 ist kein Gesellenstück und nachhaltig renovierungsbedürftig. Für Verbesserungen braucht es aber eine ruhige und sachliche Atmosphäre, die durch das Aufpeitschen der weiteren Argumente nicht gegeben ist.

So ist die höhere Belastung von Schülern durch das G8 ebenso ein Mythos wie der geringere Leistungsstand. Große Vergleichsstudien der Ludwig-Maximilians-Universität München bei 1200 GymnasiastInnen sowie der Uni Duisburg-Essen bei 3500 AbiturientInnen bescheinigen G8- und G9-Schülern das gleiche Maß an psychischer Belastung beziehungsweise den gleichen Leistungsstand und Persönlichkeitsentwicklung beim Eintritt in ein Studium. Und wer sagt, es gebe sicherlich auch Studien, die das Gegenteil belegen, sucht Verlässliches vergebens.

Ein Argument, das im Übrigen noch gar nicht für das G8 gebracht wurde, liegt in einer einfachen Frage: Würde die bayerische Staatsregierung die Zahl der Lehrerstellen aufstocken, um den Mehrbedarf an Lehrerstunden des G9 zu decken? Es ist schließlich kein Wahljahr.

Besorgte Eltern verweisen auch gerne auf die Abnahme der Freizeit durch das G8, ein Argument, welches auch gegen die Ganztagsschule angeführt wurde. Abgesehen davon, dass die korrekte Antwort auf Lernstress nicht noch mehr Lernen ist, sondern Sport zu treiben und Hobbys zur Entspannung zu verfolgen, haben Schulen und Vereine in Bayern ein gutes Angebot für die Freizeitgestaltung der Kinder gefunden. Seit dem Schuljahr 2007/08 ist die Zahl der Sportangebote durch Vereine in den Schulen von knapp 2300 auf fast 4000 Kooperationen mit mindestens einer Sport-AG pro Schule angestiegen. Allein an den bayerischen Gymnasien betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum knapp 500 zusätzliche Schulen. In Unterfranken bietet nunmehr fast jede zweite Schule gemeinsam mit Vereinen Sport an – ein Spitzenwert aller bayerischen Regierungsbezirke. Noch nie wurde an Schulen in Unterfranken mehr Sport und Bewegung angeboten als heute.

Gleichwohl erleben Eltern subjektiv einen erhöhten Schulstress ihrer Kinder. Die Ursache hierfür ist auch eine größere Sensibilität für die emotionalen Belange des Nachwuchses. Der psychologische und emotionale Wert von Kindern ist für Eltern in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen. Es wird zum Glück vermehrt auf eine gesunde psychische Entwicklung geachtet. Die spannende Frage ist nur, welches Ausmaß buddhistischer Entspannung Eltern am Ende der Grundschulzeit gezeigt haben. Welchen (ungewollten) Druck hat die Erwartungshaltung der Eltern an eine Gymnasialempfehlung bei den Kindern erzeugt. Grundschulleitungen und Klassenleitungen vierter Jahrgangsstufen schildern überehrgeizige Eltern gerne in den schillerndsten Farben. Tatsächlich zeigen Studien, dass überzogene Bildungsansprüche der Eltern an ihre Kinder nachhaltig Schulstress erzeugen.

Da es keinerlei Belege für eine Überlegenheit des G9 gibt und das Problem nicht in der Zahl der Schuljahre, sondern der Inhalte liegt, ist eine sachliche Bearbeitung des Lehrplans der wichtigste Schritt. Das geht nicht schnell und darf auch nicht noch einmal schnell gehen. Der Rückschritt zum G9 geht – populistisch gesehen – schnell, löst aber das Problem angemessener Lehrpläne nicht. Noch ein Jahr länger schlechten Lernstoff pauken, das ist für Feuerzangenbowlen-Nostalgiker vielleicht eine Möglichkeit. Wer sich aber realistisch an die eigene Schulzeit erinnert, wird ein neuntes Jahr schlicht als Freiheitsberaubung geißeln.

Andererseits: Vielleicht ist es einmal an der Zeit, dass die Bildungsgewinner durch ein Volksbegehren die Ausbildungssituation ihrer Nachkommen verschlechtern und von den tatsächlichen Defiziten guten Unterrichts ablenken. Das wäre dann ein Nachteilsausgleich gegenüber denjenigen, die trotz gleicher Fähigkeiten wegen ihrer sozialen Herkunft seltener am Gymnasium in Bayern zu finden sind.

Heinz Reinders

Der Bildungsforscher, Jahrgang 1972, stammt aus Berlin und hat Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin studiert. Nach wissenschaftlicher Assistententätigkeit in Mannheim und einem Forschungsaufenthalt in Washington wurde er Gastprofessor an der Universität Fribourg in der Schweiz. Seit 2007 hat Heinz Reinders den Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung an der Universität Würzburg inne. Der Forschungsschwerpunkt des Professors liegt auf der Sozialisation in Kindheit und Jugend.

 
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