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Gastbeitrag: Fukushima ist nicht Tschernobyl
Von unserem Gastautor Christoph Reiners
 |  aktualisiert: 09.03.2012 19:25 Uhr

Die Atomunglücke von Tschernobyl und Fukushima liegen fast genau 25 Jahre auseinander. Die beiden Namen stehen für die größten Katastrophen in der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Fukushima ist jedoch nicht Tschernobyl. Tschernobyl war anders.

Der Unfall, der sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 in Block 4 der Reaktoranlage von Tschernobyl in der Nähe der Stadt Prypiat in der Ukraine ereignete, gilt bis heute immer noch als der folgenschwerste. Grundlegende Mängel in der Konstruktion des Reaktors sowie Planungs- und Bedienungsfehler bei einem Versuch führten zur Explosion und zum Brand des Reaktorblocks. In Tschernobyl wurde gegen alle Regeln verstoßen. Dort war unglaublich krasses menschliches Fehlverhalten die Ursache.

Das Atomunglück von Fukushima war dagegen die Folge des bislang schwersten Erdbebens in Japan seit Beginn der Aufzeichnungen. Es löste einen Tsunami aus, der ganze Landstriche und Städte verwüstete und mehrere Reaktorblöcke im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zum Explodieren brachte. Diese möglichen Naturkatastrophen wurden beim Bau nicht bedacht. Die Kraftwerksbetreiber wussten jedoch davon. Das war purer Leichtsinn.

Vor Fukushima sah ich in der friedlich genutzten Atomkraft ein geringeres Risiko als in der ebenfalls von Menschen gemachten Klimakatastrophe. Nach dem 11. März 2011, als die Fehler der Firma Tepco aufgrund einer schleppenden Informationspolitik (wie es auch in der Ukraine der Fall war) erst nach und nach ans Licht kamen, befürworte ich den Ausstieg. Die Bevölkerung kritisiert zu Recht Sicherheitsmängel im Umgang mit Kernenergie. Der Diskurs über den Ausstieg wurde in Deutschland jedoch nicht sachlich und unter angemessener Berücksichtigung der Risiken und der Verfügbarkeit alternativer Energieformen geführt.

Nicht nur die Ursachen der beiden Atomkatastrophen, auch die Strahlungsbelastungen für die Menschen sind unterschiedlich. In Fukushima waren die Freisetzungen von Radioaktivität geringer und auf kurze Zeiträume nach den Explosionen im Kernkraftwerk beschränkt. In Tschernobyl dagegen kam es wegen des Reaktorbrands zur kontinuierlichen Freisetzung über zehn Tage. In Japan wurde die Radioaktivität zu großen Teilen östlich übers Meer verfrachtet. Gering erhöhte Strahlenpegel wurden jedoch auch in weit entfernten Regionen gemessen – selbst in Deutschland. In Tschernobyl zog die Radioaktivität über bewohnte Gegenden der Ukraine, Weißrusslands und des westlichen Russlands (dort gab es zum Teil hohe Belastungen) und von ganz Europa (dort war die Belastung größtenteils gering).

Das Wort Strahlung löst bei vielen Menschen Ängste aus. Ionisierende Strahlung, die beim Zerfall von radioaktiven Stoffen freigesetzt wird, hat jedoch positive wie negative Wirkungen. Wir sind einer natürlichen Hintergrundstrahlung ausgesetzt, die es so lange gibt wie unser Universum, und die sicher zur Evolution beigetragen hat. Die Strahlendosis wird in der Einheit Sievert gemessen, benannt nach dem schwedischen Mediziner und Physiker Rolf Sievert. Sie beträgt in Deutschland zwischen einem und fünf Millisievert pro Jahr; für beruflich mit Strahlung umgehende Personen sind bis zu 20 Millisievert pro Jahr zulässig.

Das Strahlungsrisiko für die japanische Bevölkerung war viel geringer als für die Menschen in Europa nach Tschernobyl. Das liegt an der niedrigeren Radioaktivität im Umkreis von Fukushima und daran, dass die Japaner weit früher Kontaminationskontrollen bei Menschen wie bei Lebensmitteln durchgeführt haben als das in den betroffenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion der Fall war. Dort war die Strahlendosis bei rund 120 000 spät Evakuierten etwa 15 Mal, bei rund sechs Millionen Einwohnern fünfmal so hoch wie die mittlere jährliche natürliche Strahlung. In Fukushima betrug sie bei mehr als 100 000 nicht Evakuierten in der 20- bis 30-Kilometer-Zone etwa das 15-Fache, bei 140 000 Evakuierten weniger als das Fünffache der natürlichen Strahlung. Für alle anderen Bewohner Japans bewegte sich der Pegel innerhalb der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlung. In Deutschland war die Strahlendosis durch Fukushima zu vernachlässigen.

In Tschernobyl wurden circa 600 Anlagenarbeiter mit sehr hohen, lebensgefährdenden Strahlungsdosen belastet (mehr als das 25-Fache der für beruflich Strahlenexponierte zulässigen Dosis). Bei der großen Gruppe von rund 600 000 nach dem Unglück in Tschernobyl hinzugezogenen sogenannten Liquidatoren gab es mittlere Belastungen in Höhe des Fünffachen. Bei 134 Arbeitern kam es zu Symptomen des schwer behandelbaren akuten Strahlungssyndroms, 28 starben innerhalb von vier Monaten.

In Fukushima waren sechs Anlagenarbeiter einer hohen Dosis (mehr als das Zwölffache des Grenzwerts) und etwa 100 Arbeiter einer mittleren Dosis (mehr als das Fünffache des Grenzwerts) ausgesetzt. Da kein Anlagenarbeiter lebensgefährlich hoch belastet wurde, ist dort auch kein Todesfall zu beklagen.

In der Bevölkerung gab es nach Tschernobyl als gravierendste Folge des Unfalls rund 6000 zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen. Sie wurden teilweise am Würzburger Uniklinikum behandelt. Kontaminierte Milch und keine Ausgabe von Jodtabletten waren die Ursache für die vermehrten Krebsfälle. Wegen der Latenzzeit von mindestens fünf Jahren bis zum Auftreten von Schilddrüsenkrebs nach einer Strahlenexposition, sind gesicherte Aussagen zu Fukushima noch nicht möglich. Aufgrund der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen ist es aber extrem unwahrscheinlich, dass es dort zu einem zweiten Tschernobyl kommt, was den Schilddrüsenkrebs anbelangt.

Das Problem in Japan ist allerdings, dass die Anlage in Fukushima noch immer nicht wirklich sicher ist. Auch in Tschernobyl müssen weiter Vorkehrungen getroffen werden, um die noch immer vorhandene Strahlung im Reaktorblock 4 von der Umwelt abzuhalten.

Prof. Dr. Christoph Reiners

Der Experte für Schilddrüsenkrebs ist seit 2011 hauptamtlicher Ärztlicher Direktor des Würzburger Universitätsklinikums. 1983 habilitierte sich Reiners im Fach Nuklearmedizin. Von 1994 bis 2010 war er Direktor der Würzburger Uniklinik für Nuklearmedizin. Reiners wurden viele Auszeichnungen sowie die Ehrendoktorwürde der Universität Minsk und der Weißrussischen Medizinischen Akademie verliehen. Er war Vorsitzender der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesumweltministeriums. Seit 2010 ist er Mitglied des SSK-Krisenstabs. FOTO: NATTER

 
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