In Polen ist nicht nur für die mittlerweile arg durchgesiebte Kriegsgeneration der Hitler-Stalin-Pakt mit dem deutschen Überfall und dem sowjetischen Einmarsch am 17. September ein nachhaltiges Trauma. Ich selbst, geboren, als die Rote Armee Auschwitz befreite, bin in gewisser Weise ein „Abfallprodukt“ des Kriegsausbruchs. Denn meine Eltern zog es nach ihrem Studium in Warschau 1939 vorerst in entgegengesetzte Richtungen: Mein Vater sollte just am 1. September eine Lehrerstelle im damaligen Ostpolen antreten, meine Mutter in Paris weiterstudieren. Sie gehörten beide schon der Generation von Polen an, die nicht mehr von russischen, habsburgischen oder deutschen Schulen geprägt worden war. Anders als ihre Vorgänger in dem seit über 100 Jahren dreigeteilten Land konnten sie ihre berufliche Zukunft in Polen wie selbstverständlich planen.
Doch sowohl in Sowjetrussland, gedemütigt noch durch die Niederlage 1920 im polnisch-sowjetischen Krieg, als auch in der Weimarer Republik wurde die schiere Existenz Polens schon als Zumutung empfunden. 1922 nannte es ein deutscher General einen „Saisonstaat“, der mithilfe der Russen wieder verschwinden müsse. Ähnlich dachte 1939 der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow, als er das zerschlagene Polen als „Missgeburt des Versailler Vertrages“ bezeichnete. Er verschwieg dabei jedoch, dass die Westgrenze der Sowjetunion nicht in Versailles, sondern in Riga zwischen Warschau und Moskau direkt ausgehandelt worden war und dass Polen und die UdSSR eine Nichtangriffserklärung verband. Durch seinen Einfall in Polen brach Stalin das Völkerrecht gleich doppelt – so wie 75 Jahre später auch Putin mit der Annexion der Krim.
Die Niederlage wird in Polen zum moralischen Sieg verklärt
Der „polnische Herbst“ 1939 ist weit mehr als nur das Trauma des deutschen Überfalls. Die Niederlage wird in Polen wegen des militärischen Widerstandes zum moralischen Sieg verklärt. Immerhin zwang dieses Aufbäumen Großbritannien und Frankreich, Hitler-Deutschland den Krieg zu erklären. Die vierte Teilung Polens wurde schließlich zum Auftakt eines Weltkrieges, der mit der Besatzung und der Spaltung Deutschlands endete.
Das polnische Kriegstrauma fußt allerdings nicht nur auf der militärischen Niederlage von 1939, die durch den Stolz auf die Präsenz polnischer Truppen an allen europäischen Fronten abgeschwächt wurde: in Frankreich, bei der Luftschlacht um England, im Warschauer Aufstand 1944 und auch in Berlin an der Seite der Sowjets, wo am 8. Mai 1945 auf der Siegessäule auch kurz eine polnische Fahne wehte. Auf der Kriegsgeneration lastete auch die Schmach der bewussten Entwürdigung der Geschlagenen durch die Sieger. Es genügt, dazu die arrogant-verächtlichen Briefe des späteren Hitler-Attentäters Claus von Stauffenberg über die minderwertigen Polen nachzulesen.
Als meine Eltern 1940 heirateten, gab es vielerorts im Generalgouvernement und den ans Reich angeschlossenen Gebieten schon Massenerschießungen der polnischen Eliten und öffentliche Hinrichtungen wild herausgegriffener Geiseln. Hochschulen und Gymnasien wurden geschlossen. Die polnische Nation sollte geköpft, vorsätzlich verdummt und mit billigem Alkohol, geförderten Abtreibungen und trivialster Massenunkultur demoralisiert werden. Kein Vergleich zur Okkupation Frankreichs, wo Sartre und Camus ihre Theaterstücke aufführen durften und Ernst Jünger mit französischen Großkopfeten parlierte. Die Widerstandskämpferin Marion Yorck von Wartenburg erwähnt in ihren Erinnerungen, dass ihr Mann Peter in Warschau von einer polnischen Adligen angefleht wurde, 15-jährige Schülerinnen aus den Bordellen der SS herauszuholen. Für ihn war dies einer der Gründe, den oppositionellen „Kreisauer Kreis“ zu bilden.
Die deutsche Besatzung in Polen war eben nicht nur Auschwitz, Treblinka und die Vernichtungsmaschinerie der „Endlösung“, sondern auch die planmäßige Terrorisierung und Degenerierung der Bevölkerung. Als Gegenwehr entstand bereits 1940 ein polnischer Untergrundstaat mit eigener Justiz und Schulwesen unter einer Exilregierung in London. Der Heimatarmee mit 300 000 Soldaten, die ihr unterstand, traten auch die beiden Brüder meines Vaters bei – er dagegen sah seine patriotische Pflicht darin, seine Kinder zu beschützen und vernünftig großzuziehen. Der eine Bruder überlebte den Warschauer Aufstand, der andere aber verirrte sich in den Kanälen und wurde von sowjetischen Überläufern erschossen. Seine Mutter blickte jahrzehntelang von ihrem Balkon auf den Ort dieser Massenerschießungen.
Nach Stalins Tod erodierte die sowjetische Vormundschaft in den „Bruderländern“
Sechs Millionen Polen – die Hälfte davon polnische Juden – fielen der deutschen Besatzung zum Opfer. Hinzu kamen Hunderttausende Vertriebene, Ermordete und Gestorbene infolge der sowjetischen Deportationen. 1945 war Polen aber keineswegs ein Sieger. Obwohl sein militärischer Beitrag an der Seite der Alliierten kontinuierlicher und umfangreicher war als der Frankreichs mit seiner Vichy-Regierung, war es für die Allianz der „großen Drei“ aus den USA, Großbritannien und der Sowjetunion kein Partner, sondern bloßes Objekt. Polen wurde westverschoben, weil Stalin seine Beute aus dem „Teufelspakt“ mit Hitler behielt, mit Königsberg als Zugabe, heute einem militärischen Vorposten gegen die Nato.
In Stalins sowjetimperialen Vorstellungen gab es nur einen Hegemonen, nämlich ihn – und willige Helfer in der sowjetischen Einflusszone. Dennoch erodierte nach Stalins Tod die sowjetische Vormundschaft in den „Bruderländern“. 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn führte dies zu militärischen Interventionen, in Polen 1956 zu einem Kompromiss: Freiräume in der Innenpolitik und den Westkontakten, bei Beibehaltung der Blockdisziplin.
Die Geschichte kennt keine absolute Gerechtigkeit
Die lag nahe, da Bonn die polnische Westgrenze nicht anerkannte und die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Geflüchteten, Vertriebenen und Zwangsumgesiedelten als politisches Gegengewicht zur deutschen Kriegsschuld aufzubauen begann. Die Westmächte hatten bei der Gründung der Bundesrepublik ja keine Anerkennung der Oder-Neiße Grenze gefordert, weil die Westbindung die Fata Morgana einer Revision im Osten brauchte. Auch der juristisch schlampig abgesicherte Verzicht Volkspolens auf deutsche Reparationen erfolgte mit Rücksicht auf die DDR. Nach der Potsdamer Regelung sollte Polen ohnehin nur aus dem sowjetischen Paket entschädigt werden.
Auch wenn dieser Streit völkerrechtlich obsolet ist, sollten beide Seiten durchaus den gemeinsamen Umgang mit der Erinnerung an die Vergewaltigung Polens im Krieg, an den Völkermord und die vorsätzlichen Zerstörungen im besetzten Land ernst nehmen, dabei aber auch die Lasten, die Deutsche nach dem Krieg tragen mussten, und ihre Leistungen für die Neugestaltung der Nachbarschaft nicht außer Acht lassen. Die Geschichte kennt keine absolute Gerechtigkeit.
Fast 75 Jahre nach Kriegsende kann es nicht um die Aufrechnung oder Gleichsetzung von Leid und Traumata gehen, sondern nur noch um die gemeinsame deutsch-polnische Verpflichtung für unsere gedeihliche und stabile Zukunft in Europa. Es geht um eine von Schulen, Medien, Politik und Kirchen geförderte Kenntnis des jeweiligen Nachbarn und um einen gemeinsamen politisch-moralischen Auftrag für die Generationen, für die selbst die ostmitteleuropäische Revolution des Jahres 1989 längst Geschichte ist.
Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gab es auf beiden Seiten Menschen, die weitsichtig an die Notwendigkeit einer deutsch-polnischen Versöhnung dachten. Als Abc-Schütze im mittlerweile polnischen Breslau wurde ich von meinen Eltern gefragt, welche Fremdsprache ich denn lernen wolle? „Deutsch“, antwortete ich, weil ich die Inschriften dort verstehen wollte. „Gut“, meinte meine Mutter. „Die Sprache des Nachbarn muss man kennen.“ Des Nachbarn, nicht des Feindes – das war die Botschaft dahinter.
Adam Krzeminski hat Germanistik in Warschau und in Leipzig studiert. Der 74-jährige Journalist gilt in Polen als einer der besten Kenner Deutschlands. 1993 erhielt er die Goethe-Medaille für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung, 1999 das Bundesverdienstkreuz.