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Gastbeitrag: Alles versucht – außer Frieden
Newsdesk Aktuelles
 |  aktualisiert: 14.11.2015 03:53 Uhr

Seit dem 3. Oktober sind acht Israelis und über 30 Palästinenser ums Leben gekommen. Wieder einmal ist die Rede von einer neuen sich anbahnenden Intifada. In unregelmäßigen Abständen wird seit mindestens fünf Jahren vor einem solchen dritten Aufstand der Palästinenser gewarnt, so war es auch vor ziemlich genau einem Jahr, als Palästinenser Anschläge auf Fahrgäste der Jerusalemer Straßenbahn verübten. Welche Wut und Frustration, welcher Vergeltungsdrang entlädt sich in diesen grässlichen Taten solcher von israelischen Medien „einsame Wölfe“ genannten Attentätern? Man muss sich den Besatzungsalltag von gut vier Millionen Palästinensern vor Augen halten. Der Begriff Besatzung – selten geworden in deutschen Medien – beschreibt das Leben von Israels Gnaden, das Menschen beispielsweise in Bethlehem, Jericho oder Gaza-Stadt zu führen gezwungen sind.

Diese Fremdherrschaft besteht seit 1967 bis zur Stunde und hat viele unschöne Facetten. Ein israelischer Armeejeep kann zwischen zwei benachbarten palästinensischen Dörfern einen vorübergehend operierenden „fliegenden Kontrollpunkt“ errichten, infolgedessen Studenten verspätet ihre Vorlesungen, Patienten das Krankenhaus oder Männer ihre Arbeitsstellen erreichen. Die Besatzungsmacht zeigt sich auch dann, wenn Israel palästinensische Anträge auf Familienzusammenführung ablehnt oder überhaupt nicht bearbeitet. Die Folge: Ein Palästinenser und seine jordanische oder schwedische Ehefrau können nicht legal in Bethlehem oder Nablus leben, tauchen ab, ängstigen sich vor einer drohenden Abschiebung oder leben gezwungenermaßen getrennt – manche seit Jahr und Tag.

Besatzung bedeutet auch Landenteignung und jüdischer Siedlungsbau. Und der hat unter Netanjahu rasant zugelegt. Insgesamt leben derzeit mehr als 750 000 Siedler im West-Jordanland und in Ost-Jerusalem, ein klarer Bruch der vierten Genfer Konvention. Und die Besatzung hat viele weitere hässliche Gesichter. Sie erschwert das Leben von Palästinensern und macht es manchmal zur Hölle. Paradox: Seit dem Beginn der ersten offiziellen Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern 1991 in Madrid hat sich das Leben der Palästinenser dramatisch verschlechtert.

Die aktuelle Welle der Gewalt hat einen konkreten Auslöser: einen Streit um die Nutzung der heiligen Stätten auf dem Tempelberg. In jüngster Zeit sind dort hinauf wiederholt nationalreligiöse Juden – dem Beispiel Ariel Sharons vom September 2000 folgend – gepilgert, darunter auch Knesset-Abgeordnete, sogar Minister der aktuellen Regierung. Dabei steht am einzigen Aufgang für Nichtmuslime, dem Holzsteg zum Maghrebiner-Tor, dieses Warnschild auf Hebräisch und Englisch: „Ankündigung und Warnung: Gemäß Thora-Gesetz ist wegen der Heiligkeit des Ortes Juden das Betreten des Tempelberges strengstens verboten. Oberrabbinat des Staates Israel.“ Man könnte ja unwissentlich auf die Stelle des Allerheiligsten im einstigen jüdischen Tempel treten, was einer Todsünde gleichkäme. Ariel Sharon, damals Oppositionsführer, löste vor 15 Jahren mit seiner Missachtung der Rabbinatsanweisung die zweite Intifada aus. Lösen nun seine Gesinnungsgenossen im Parlament oder in der Siedlerbewegung den dritten Aufstand aus? Der sephardische Oberrabbiner Jitzhak Josef beschuldigte indirekt die Regierung, für die derzeitige Eskalation der Gewalt mit verantwortlich zu sein. Palästinenser befürchten, dass ihrem drittheiligsten Ort – nach Mekka und Medina – dasselbe bevorsteht wie den Patriarchengräbern in Hebron.

1994, während des Ramadan, tötete dort der jüdische Arzt und Siedler Baruch Goldstein 29 betende Muslime und verletzte 150. Darauf wurde der al-Haram al-Ibrahimi (Abrahamsheiligtum) zweigeteilt, in eine größere Moschee und eine kleinere Synagoge. Denkt Israel ernsthaft an ein solches Szenario im Hinblick auf den Tempelberg? Israel beantwortet die gegenwärtige Gewaltwelle mit harter Hand. Premier Netanjahu will die palästinensischen Angriffe „mit allen Mitteln“ beenden: Dazu zählen die Erlaubnis, Häuser mutmaßlicher Terroristen abzureißen, das Verhängen der Ausgangssperre oder die Abriegelung palästinensischer Wohngebiete in Ost-Jerusalem. Dabei scheint es nicht einmal einen Abschreckungseffekt zu haben, dass fast die Hälfte der Terroristen noch am Tatort erschossen wurde. Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat rief unterdessen die Bewohner mit Waffenschein dazu auf, ab sofort ihre Schusswaffe mit sich zu führen – zur Selbstverteidigung und zur Überwältigung von Angreifern.

Israel setzt wieder einmal auf die Gewalt-Karte. Dabei hat der Staat in der Vergangenheit schon das ganze Arsenal an gewaltsamen Mitteln ausprobiert. Ohne Erfolg. Eine Wurzelbehandlung indes sieht anders aus: Sie muss mit einer redlichen Aufarbeitung der eigenen Schuld seit 1948, seit der Nakba (arabisch für Katastrophe, Begriff für Staatsgründung Israels und damit einhergehender Flucht und Vertreibung der Palästinenser), beginnen. Israel muss endlich ernsthaft mit den Palästinensern auf Augenhöhe verhandeln, und: die Besatzung beenden. Das einzige, was israelische Regierungen noch nicht versucht haben, sind: Siedlungsstopp, faire Verhandlungen, vertrauensbildende Maßnahmen sowie ehrliche Schritte hin zu Aussöhnung und Frieden.

Friedensverweigerer Netanjahu ließ die letzten Unterredungen mit der palästinensischen Seite während der neunmonatigen Pendeldiplomatie von US-Außenminister John Kerry 2013/14 bewusst scheitern. Sein Presseberater bekannte offen, der Premierminister habe „die Gespräche absichtlich ins Leere laufen lassen.“ Dabei könnte Israel als der deutlich Stärkere in dieser Konfliktgleichung allein den Status Quo verändern. Dazu müssen gerade deutsche Politiker ihren Freund Israel drängen, und zwar jetzt. Es ist nicht fünf vor Zwölf, es ist eine Minute davor.

Johannes Zang

Der Autor und Journalist Johannes Zang hat fast zehn Jahre im Heiligen Land gelebt und gearbeitet, darunter im Kibbuz Be'eri, in Bethlehem und in Ostjerusalem. Der 51-Jährige setzte sich in den Büchern „Unter der Oberfläche – Erlebtes aus Israel und Palästina“ und „Gaza – ganz nah, ganz fern“ mit der Region auseinander. Derzeit arbeitet er an einem dritten Buch, einer Handreichung für Pfarrer, Theologen und alle, die eine Heilig-Land-Pilgerreise planen. Zang lebt mit seiner Familie in Goldbach bei Aschaffenburg, mehrmals im Jahr begleitet er Pilgergruppen ins Heilige Land. Foto:Privat/Text: ben

 
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Kommentare
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  • Lebenhan1965
    durch einen israelischen Fanatiker vor ca. 20 Jahren scheint die israelische politische Klasse nur noch das Ziel zu verfolgen, die Palästinenser zu vernichten. Mit Sicherheit wird es so nie Frieden geben und es werden weiterhin viele Unschuldige durch Gewalttaten sterben. Es ist schade, dass der Attentäter damit sein Ziel erreicht hat.
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  • swantewit
    Ein Dankeschön an die Mainpost für den Gastkommentar des J. Zang. Es ist sehr zu begrüssen solch kritische Meinungen in der Mainpost zu lesen. J. Zang spricht Wahrheiten aus. Wer das vertiefen möchte, dem sei der israelische Autor Shlomo Sand empfohlen.
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