65,3 Millionen Menschen sind laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen derzeit weltweit auf der Flucht. Warum mussten sie ihre Heimat verlassen? Dieser Frage geht das „Friedensgutachten 2016“ der deutschen Institute für Friedens- und Konfliktforschung nach. Anlässlich des Internationalen Friedenstages am 21. September sprach Margret Johannsen vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) über Inhalte des Gutachtens.
Margret Johannsen: Nein, denn die Welt ist nie friedlich gewesen. Es gab Phasen mit mehr und es gab Phasen mit weniger Frieden. Der Eindruck, dass die „Welt aus den Fugen“ sei, entsteht wohl deshalb, weil wir heute so viel von der Welt erfahren können. Es gibt allerdings einen Unterschied zu früher: Die weltweiten Gefahren kommen inzwischen bei uns viel spürbarer an.
Johannsen: Wir haben zu lange die Augen zugemacht vor den kriegerischen Auseinandersetzungen außerhalb der westlichen Welt und für die unterschiedlichen Gründe, die die Menschen in die Flucht treiben. Dazu gehört auch eine Wirtschaftsordnung, die in weiten Teilen der Welt Armut erzeugt. Menschen flüchten ja nicht nur vor Raketen, sondern auch vor Hunger. Aus humanistischer Sicht würde ich gar nicht zwischen politisch verfolgten Flüchtlingen und Migranten, die vor Hunger fliehen, unterscheiden. In beiden Fällen steht am Ende der Tod.
Johannsen: Ziel von Militärinterventionen ist es in der Tat, diejenigen, die Gewalt erzeugen, unfähig zu machen, ihre Gewalt weiter auszuüben. Oft ist aber die Lage vor Ort absolut unübersichtlich. Aus diesem Grund ist es so schwer, die Folgen einer Militärintervention voll in den Blick zu nehmen.
Johannsen: Entscheidend ist auch hier, die Lage vor Ort tief zu durchdringen. Von außen Frieden zu bringen, ist so gut wie aussichtslos. Erforderlich ist eine nachhaltige Zusammenarbeit mit Menschen, die sich vor Ort für Frieden einsetzen. Diese Vernetzung allerdings ist sehr kompliziert.
Johannsen: Gerade im Falle des Islamischen Staates ist es wichtig, sich die Entstehungsgeschichte vor Augen zu führen. Der IS wurde groß in autokratisch regierten Gesellschaften, die zerfallen sind, vor allem im Irak und in Syrien. Diese Staaten können nicht mehr das leisten, was Bürger von einem Staat erwarten: Dass sie in Sicherheit leben können, ein Auskommen für sich und ihre Familie haben und dass ihre Kinder eine Zukunftsperspektive erhalten. Menschen verlangen außerdem danach, sich mit einem Gemeinwesen zu identifizieren.
Wo sie all das nicht haben, hat der IS ein leichtes Spiel. Das heißt aber auch: Will man den IS langfristig besiegen, muss man die Strukturen ändern, die ihn hervorgebracht haben.
Johannsen: Zunächst: Ich rede nie von „Flüchtlingskrise“. Ich rede von der Krise der Politik im Umgang mit dem Fluchtgeschehen. Ich würde nämlich die Verantwortung nicht bei den Flüchtlingen abladen. Um zu Ihrer Frage zurückzukehren: Es ist in der Tat so, dass der Umgang mit dem Fluchtgeschehen die Europäische Union zu zerreißen droht. Was man der EU in diesem Zusammenhang anlasten muss, ist, dass sie sehr frühzeitig hätte handeln müssen. Wir fordern in unseren Friedensgutachten seit 2012 eine verlässliche Politik im Umgang mit dem Fluchtgeschehen. Doch es tat sich lange überhaupt nichts. Man hat erst gehandelt, als das Problem einem quasi die Tür eingeschlagen hat. Das ist das politische Versagen der Europäischen Union.
Johannsen: Ganz richtig, es gibt schon lange eine Nord-Süd-Spaltung. Europa hat sich zwar als Friedensprojekt gegründet. Es wurden allerdings Institutionen geschaffen, die nicht geeignet waren, eine europäische Solidarität entstehen zu lassen. Man hat auf ein neoliberales, marktradikales Konzept gesetzt und die Fiktion einer wirtschaftlichen Gemeinschaft aufrechterhalten, die es so nie gab. Der Süden ist nun mal viel weniger leistungsfähig als der Norden. Aber davor hat man einfach die Augen zugedrückt.
Johannsen: Wir hoffen, dass unser Konzepte vielleicht doch einmal bei der Politik landen. Jedes Jahr erinnern wir bei der Präsentation des Friedensgutachtens auch daran, was wir in den Jahren davor geschrieben haben. Durch das, was wir etwa in Bezug auf das Fluchtgeschehen schon 2012 veröffentlicht haben, stellen wir wissenschaftliche Kompetenz bei der Krisenfrüherkennung unter Beweis. Und die könnte der Politik sehr nützen. Foto: Hamburger Friedensinstitut