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„Friedlich war die Welt noch nie“
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Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 12.10.2016 03:43 Uhr

65,3 Millionen Menschen sind laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen derzeit weltweit auf der Flucht. Warum mussten sie ihre Heimat verlassen? Dieser Frage geht das „Friedensgutachten 2016“ der deutschen Institute für Friedens- und Konfliktforschung nach. Anlässlich des Internationalen Friedenstages am 21. September sprach Margret Johannsen vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) über Inhalte des Gutachtens.

Frage: Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt so wenig friedlich ist wie noch nie. Teilen Sie diesen Eindruck?

Margret Johannsen: Nein, denn die Welt ist nie friedlich gewesen. Es gab Phasen mit mehr und es gab Phasen mit weniger Frieden. Der Eindruck, dass die „Welt aus den Fugen“ sei, entsteht wohl deshalb, weil wir heute so viel von der Welt erfahren können. Es gibt allerdings einen Unterschied zu früher: Die weltweiten Gefahren kommen inzwischen bei uns viel spürbarer an.

Das diesjährige Friedensgutachten setzt Fluchtursachen ganz oben auf die Agenda. Es appelliert an unsere Verantwortung für die Flüchtlingsthematik. Was ist denn das größte Versäumnis der westlichen Welt mit Blick auf das aktuelle Fluchtgeschehen?

Johannsen: Wir haben zu lange die Augen zugemacht vor den kriegerischen Auseinandersetzungen außerhalb der westlichen Welt und für die unterschiedlichen Gründe, die die Menschen in die Flucht treiben. Dazu gehört auch eine Wirtschaftsordnung, die in weiten Teilen der Welt Armut erzeugt. Menschen flüchten ja nicht nur vor Raketen, sondern auch vor Hunger. Aus humanistischer Sicht würde ich gar nicht zwischen politisch verfolgten Flüchtlingen und Migranten, die vor Hunger fliehen, unterscheiden. In beiden Fällen steht am Ende der Tod.

In Ihrem aktuellen Gutachten stellen Sie dar, dass Militärinterventionen oft fragwürdig sind, auch wenn sie das Ziel haben, Gewalt in einem Staat zu vermindern. Was sind hier Ihre Kritikpunkte?

Johannsen: Ziel von Militärinterventionen ist es in der Tat, diejenigen, die Gewalt erzeugen, unfähig zu machen, ihre Gewalt weiter auszuüben. Oft ist aber die Lage vor Ort absolut unübersichtlich. Aus diesem Grund ist es so schwer, die Folgen einer Militärintervention voll in den Blick zu nehmen.

Aber auch Konzepte der friedlichen Konfliktbeilegung scheinen nicht gut zu funktionieren. Jedenfalls zeigten Sie schon in Ihrem Friedensgutachten 2005 auf, dass es doppelt soviel gescheiterte wie gelungene Konfliktbeilegungen gibt.

Johannsen: Entscheidend ist auch hier, die Lage vor Ort tief zu durchdringen. Von außen Frieden zu bringen, ist so gut wie aussichtslos. Erforderlich ist eine nachhaltige Zusammenarbeit mit Menschen, die sich vor Ort für Frieden einsetzen. Diese Vernetzung allerdings ist sehr kompliziert.

Aktuell wird versucht, den Islamischen Staat militärisch zu besiegen. Was ist davon zu halten? Nach dem, was Sie eben gesagt haben, wird dies kaum erfolgreich sein.

Johannsen: Gerade im Falle des Islamischen Staates ist es wichtig, sich die Entstehungsgeschichte vor Augen zu führen. Der IS wurde groß in autokratisch regierten Gesellschaften, die zerfallen sind, vor allem im Irak und in Syrien. Diese Staaten können nicht mehr das leisten, was Bürger von einem Staat erwarten: Dass sie in Sicherheit leben können, ein Auskommen für sich und ihre Familie haben und dass ihre Kinder eine Zukunftsperspektive erhalten. Menschen verlangen außerdem danach, sich mit einem Gemeinwesen zu identifizieren.

Wo sie all das nicht haben, hat der IS ein leichtes Spiel. Das heißt aber auch: Will man den IS langfristig besiegen, muss man die Strukturen ändern, die ihn hervorgebracht haben.

Kehren wir noch einmal kurz zurück nach Europa und zu den Flüchtlingen. Für viele Menschen bleibt derzeit nur zu hoffen, dass die Flüchtlingskrise die EU nicht zerreißt. Befürchten Sie dies auch?

Johannsen: Zunächst: Ich rede nie von „Flüchtlingskrise“. Ich rede von der Krise der Politik im Umgang mit dem Fluchtgeschehen. Ich würde nämlich die Verantwortung nicht bei den Flüchtlingen abladen. Um zu Ihrer Frage zurückzukehren: Es ist in der Tat so, dass der Umgang mit dem Fluchtgeschehen die Europäische Union zu zerreißen droht. Was man der EU in diesem Zusammenhang anlasten muss, ist, dass sie sehr frühzeitig hätte handeln müssen. Wir fordern in unseren Friedensgutachten seit 2012 eine verlässliche Politik im Umgang mit dem Fluchtgeschehen. Doch es tat sich lange überhaupt nichts. Man hat erst gehandelt, als das Problem einem quasi die Tür eingeschlagen hat. Das ist das politische Versagen der Europäischen Union.

Allerdings gab es ja schon vorher Risse.

Johannsen: Ganz richtig, es gibt schon lange eine Nord-Süd-Spaltung. Europa hat sich zwar als Friedensprojekt gegründet. Es wurden allerdings Institutionen geschaffen, die nicht geeignet waren, eine europäische Solidarität entstehen zu lassen. Man hat auf ein neoliberales, marktradikales Konzept gesetzt und die Fiktion einer wirtschaftlichen Gemeinschaft aufrechterhalten, die es so nie gab. Der Süden ist nun mal viel weniger leistungsfähig als der Norden. Aber davor hat man einfach die Augen zugedrückt.

Seit 1987 jedes Jahr ein Friedensgutachten zu erstellen, kostet viel Energie. Haben Sie denn das Gefühl, dass sich die Arbeit lohnt?

Johannsen: Wir hoffen, dass unser Konzepte vielleicht doch einmal bei der Politik landen. Jedes Jahr erinnern wir bei der Präsentation des Friedensgutachtens auch daran, was wir in den Jahren davor geschrieben haben. Durch das, was wir etwa in Bezug auf das Fluchtgeschehen schon 2012 veröffentlicht haben, stellen wir wissenschaftliche Kompetenz bei der Krisenfrüherkennung unter Beweis. Und die könnte der Politik sehr nützen. Foto: Hamburger Friedensinstitut

Margret Johannsen

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Margret Johannsen (70) arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten, Rüstungskontrolle und Terrorismus. Seit 2009 ist Johannsen Mitherausgeberin des „Friedensgutachtens“, ein seit 1987 erscheinendes Jahrbuch fünf deutscher Friedensforschungsinstitute. PAT
 
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