Sir Christopher Clark hat in seinem berühmten Buch „Die Schlafwandler“ beschrieben, wie Europa in den Ersten Weltkrieg taumelte. Der 59-Jährige gebürtige Australier ist Historiker, Publizist und Autor. Sein aktuelles Buch hat den Titel „Von Zeit und Macht“. Clark ist mit der deutschen Kunsthistorikerin Nina Lübbren verheiratet. Mit ihr hat er zwei Söhne und lebt in London. Im Interview erklärt er, warum er sich heute wieder Sorgen um Europa macht.
Christopher Clark: Nein, für alarmistisch halte ich das nicht. Eher für eine vorsichtige, sorgenvolle Haltung, die angesichts der Weltlage gerechtfertigt ist. Es geht mir nicht darum, zu sagen, dass die Situation mit der vor dem Ersten Weltkrieg in allen Punkten vergleichbar ist. Das wäre genauso dumm wie die Behauptung, Putin ist gleich Hitler. Aber es gibt Parallelen: Wie vor 1914 sind wir in einer Situation, in der durch Zufälle gefährliche Konflikte entstehen können.
Clark: 1989 glaubte man, dass sich nach der Rivalität zwischen Westen und Osten alles der Hegemonialmacht USA unterordnen würde. Doch was haben wir heute? Wir haben Russland und China als besorgniserregende Faktoren, wir haben Regionalmächte, wie den Iran oder die Türkei, die benachbarte Staaten kontrollieren wollen. Wir hatten die weltweite Finanzkrise, die das Vertrauen in die Finanzwelt stark beschädigt, wenn nicht gar zerstört hat. Kurzum: Es gibt keine direkte Analogie zu den Schlafwandlern von 1914, aber wie damals funktionieren unsere Systeme nicht mehr richtig.
Clark: Das ist ja jetzt auch eines der Argumente der Brexit-Befürworter, die behaupten: „Wir verdanken der EU gar nichts.“ Natürlich war die Nato seit dem Zweiten Weltkrieg stabilisierend. Aber die EU hat eine sehr erfolgreiche Friedenspolitik auch im Sinne der Befriedung früherer Feinde gemacht. Denken Sie an die Demokratisierung Spaniens nach dem Tod des Diktators Franco oder an Irland.
Clark: Das trifft absolut zu. Ich kann mich nicht an ein solches Ausmaß an Ratlosigkeit erinnern. Da gibt es die europafeindlichen Bewegungen von rechts und von links. Das sind Symptome oder auch Folgen der Krise – ganz nach dem Motto: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?
Clark: Nach dem Ende des Kalten Krieges. Zuerst gab es eine Euphorie. Doch dann zeigte sich, dass auch die liberalen Demokratien nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes wie gelähmt waren. Nehmen wir die beiden Irak-Kriege oder das Beispiel Afghanistan. Die USA glaubten an das Konzept „Nation Building“, also den Export von Demokratie. Doch diese Idee endete in Chaos und Massensterben. Es scheint fast so, als seien die liberalen Demokratien in eine Sinnkrise geraten, weil ihnen das Gegengewicht Warschauer Pakt abhandengekommen ist.
Clark: Es sieht wirklich so aus. Umso wichtiger ist, dass Europa endlich wieder anfängt, das Thema Zukunft zu besetzen.
Clark: Das ist sehr bedrohlich. Mit dem Satz „Wir wollen unter uns sein“ hat diese ganze Brexit-Sache begonnen.
Clark: Am Anfang dachte ich, das sind nur ein paar Spinner. Doch das sehe ich heute komplett anders. Das Problem ist, dass CDU und SPD den Leuten am linken und rechten Ende des politischen Spektrums kaum zuhören. Man hätte viel früher hellhörig werden müssen. Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich ein Nazi. Ich meine damit nicht Leute wie Björn Höcke, bei denen jede Diskussion zwecklos ist. Ich meine eher Leute, die ich als kluge Konservative oder kluge Linke kennengelernt habe, die jetzt darüber nachdenken, radikal zu wählen. Klar ist für mich, dass wir uns in einer Notlage befinden. Es geht um Leben und Tod für die politische Mitte.
Clark: Wir müssen pragmatisch nach Lösungen suchen und mit kühlem Kopf alle Optionen abwägen, statt in Dogmatismus zu verfallen. Lagerkämpfe sind der völlig falsche Weg.