Bereits zu Lebzeiten zählte Elisabeth Noelle-Neumann zu den umstrittenen Frauen der Bundesrepublik. Das war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sie eine der wenigen Frauen war, die nach 1945 im Rampenlicht standen. Vielmehr polarisierte sie auch durch ihre Arbeit. Sie betrieb Demoskopie und bezeichnete das als wissenschaftlich; andererseits stand sie der CDU nahe und war oft an der Seite von CDU-Kanzlern zu sehen. Der politisch Interessierte wusste also nie, wo der wissenschaftliche Befund aufhört und der politische Kommentar anfängt.
Ein eben erschienenes Buch stellt die bekannten Vorwürfe in den Schatten. Der Autor Jörg Becker arbeitet, wie er bereits im Vorwort schreibt, sein Lebensthema ab. Seit Jahren schon wollte er dieses Leben beschreiben. Nun tut er es. Der heute 67 Jahre alte pensionierte Professor für Soziologie rüttelt am Denkmal von Elisabeth Noelle und bringt es stark ins Wanken.
Die wichtigsten Vorwürfe, die Becker erhebt und durch viele unbekannte Dokumente untermauert: Die junge Journalistin stand dem NS-Regime näher, als sie es in ihren „Erinnerungen“ glauben machen will. Als junge Reporterin habe sie für die NS-Zeitschrift „Das Reich“ nicht nur Harmloses geschrieben. Vielmehr sei sie tief überzeugt gewesen vom Herrenmenschentum und der Minderwertigkeit der Juden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei sie, wenn auch verschleiert, Antisemitin geblieben. Außerdem habe sie wissentlich eine gefälschte Entnazifizierungsurkunde benutzt, um lupenrein dazustehen. Dabei war sie keinesfalls unbelastet, folgert der Autor. Vielmehr habe sie als überzeugte Ideologin auch in der Bundesrepublik vorne mitgemischt. Den Kanzlern Adenauer und Kohl war sie unentbehrlich, die Zeitung „taz“ nannte sie deshalb einmal „Kanzlerglucke“.
Beckers Buch über die „Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“ muss man als persönliche Abrechnung lesen, bei der das Urteil im Kern feststand, bevor mit der Niederschrift begonnen wurde. Dennoch gilt: Noch nie ist ein Noelle-Porträt aus einer derartigen Fakten- und Belegfülle geschöpft worden. Noch kein Autor machte sich die Mühe, jeden Noelle-Artikel aus der Zeit vor 1945 zu lesen, jeden Brief, jedes wo immer archivierte Dokument. Keine andere Studie über die „Pythia vom Bodensee“ weist diese Akribie auf.
Das geht bis zum Briefwechsel mit Ernst Jünger, der freilich bald wieder einschlief: Der berühmte Schriftsteller wollte von der Meinungsforschung im Allgemeinen und Frau Noelle im Besonderen bald nichts mehr wissen. Sie hatte sich schlicht aufgedrängt immer auf der Suche nach prominenten Unterstützern.
Beckers Buch verändert weit über solche kuriose Details hinaus das öffentliche Bild dieser Frau. In der Gesamtschau seiner Belege wird deutlich, dass Frau Noelle manches Element der NS-Weltanschauung verinnerlicht hatte und in ihre Denk- und Arbeitswelt nach 1945 rettete. Das hatte Folgen, war sie seit Gründung ihres Allensbacher Instituts auch Arbeitgeberin und als Mainzer Professorin für Publizistik zudem einflussreiche Lehrerin. Ihr Wort zählte. Verlässlich war es dennoch nicht, wie Becker an vielen Stellen nachweisen kann. Bedauerlich nur, dass seine spürbare Voreingenommenheit so weit geht, dass er entlastendes Material über Noelle vom Tisch wischt.
Das schmälert den Wert seiner Studie. Dennoch erhält der Leser damit ein Standardwerk über eine prominente deutsche Frau nach 1945. Becker spart peinliche Details nicht aus, etwa Noelles ausgeprägte Esoterik, die ihre Wurzeln wiederum in der Nostradamus-Gläubigkeit vieler NS-Größen hat. Die Professorin glaubte an ihre Umfragen, an die Wiedergeburt und an sich selbst. Ein steiles Zitat, das sich auf 1933 bezieht, illustriert diese Selbstbezogenheit: „Während in Deutschland die Nazis die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte einwarfen, saß ich in der rumänischen Botschaft in Kairo und plauderte.“ So schrieb sie noch 2006 in ihren Erinnerungen, ohne zu zucken.
Elisabeth Noelle-Neumann
Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann (1916 bis 2010) stammt aus Berlin und arbeitete zunächst als Journalistin. 1947 gründete sie das Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach, das sich rasch zu einem der wichtigsten Umfrager der jungen Bundesrepublik entwickelte. In Allensbach wurde sie mit der Würde einer Ehrenbürgerin geehrt. Der Zweitname stammt von ihrem früh verstorbenen Mann Peter Erich Neumann. Jörg Becker: „Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“, Verlag Ferdinand Schöningh, 369 Seiten, 34,90 Euro