Tiefe Furchen durchziehen ihr Gesicht. Schlohweiß sind ihre Haare, faltig ihre Hände. Ruth Pfau ist keine junge Frau mehr und das sieht man ihr an. Ihr Gesicht erzählt von all den Geschichten, die sie erlebt hat. Traurige Geschichten, ungewöhnliche Geschichten, bewegende Geschichten. Am 9. September feiert der „Engel von Karachi“, wie sie oft genannt wird, seinen 85. Geburtstag.
Ginge es nach ihr würde Ruth Pfau an ihrem Ehrentag vermutlich lieber arbeiten, statt ihn zu feiern. Allerdings, Wünsche hat die Frau, deren Arbeit viele Mainfranken unterstützen und deren Heimatbasis die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) mit Sitz in Würzburg ist, schon einige. „So viele Patienten ich habe, so viele Wünsche habe ich“, sagt sie. Dieser Satz zeigt, was im Leben der promovierten Medizinerin vor allem zählt: helfen. Seit mehr als 50 Jahren unterstützt sie kranke und arme Menschen in Pakistan. Es sei ihre Aufgabe, ihre Berufung den Benachteiligten in diesem Land zu helfen, sagte Ruth Pfau einmal.
Eine Berufung, die sie eher zufällig ereilte. Denn die pakistanische Stadt Karachi sollte nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Indien sein, wo die Ärztin und Nonne als Frauenärztin arbeiten sollte. Eigentlich. Doch es gab Probleme mit dem Visum und Ruth Pfau saß in Pakistan fest. Einem Land, in dem es im Jahr 1960 Lepra offiziell gar nicht gab. Es wurde nicht ein einziger Patient an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet. Die Realität sah jedoch anders aus, wie Ruth Pfau schnell erkannte. Als die Medizinerin das Elend der leprakranken Menschen in der Stadt sah, wusste sie, dass sie bleiben und handeln muss. „Man wurde nicht behandelt, man endete schließlich verkrüppelt, verstümmelt, entstellt auf den Straßen einer umbarmherzigen Großstadt“, beschrieb sie die damalige Situation in einem ihrer Bücher.
Ruth Pfau wurde 1929 in Leipzig geboren. Als Kind erlebte sie den Krieg mit. Wenige Jahre später musste sie mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder starb, weil er die richtigen Medikamente nicht rechtzeitig bekam. Nach diesem Erlebnis entschloss sie sich, Medizin zu studieren. In einer Zeit, in der der wirtschaftliche Wohlstand in Deutschland wuchs und materielle Dinge für viele wichtiger wurden, besann sich Ruth Pfau auf das für sie Essentielle. Das neueste Auto, das größte Haus – all das spielte für die junge Frau keine Rolle. Stattdessen wurde ihr Wunsch, in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, immer klarer.
Während des Medizinstudiums in Mainz und Marburg fand die Atheistin zum Christentum. 1957 schloss sie sich der Kongregation der Töchter vom Herzen Mariä an. Der Glauben half ihr bei den Aufgaben, die sie bewältigen musste – damals wie heute. „Wenn ich nicht Ordensfrau gewesen wäre, wäre es schwieriger gewesen, mit dieser ganzen Frustration umzugehen. Deshalb bin ich noch am Leben“, sagt sie.
Denn was als eine medizinische Erfolgsgeschichte scheint, hat, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, einige Opfer und Anstrengungen verlangt. Anfangs behandelte Ruth Pfau ihre Patienten in einem Bretterverschlag mit undichtem Dach. Ein Raum, ohne Strom und fließendes Wasser. Ein Raum, in dem sich alles abspielte. Dort wurden Medikamente ausgegeben, Patienten untersucht und die Zehen- und Fingerknochen der Leprakranken operiert. Bis zu 2500 Erkrankte kamen jeden Monat, um die Ärztin aus Deutschland und ihre Kollegen um Hilfe zu bitten. Unter solch schwierigen Umständen war eine gute medizinische Versorgung beinahe unmöglich.
Es musste sich etwas ändern und dazu brauchte Ruth Pfau Geld. Eine der Organisationen, die die junge Ärztin schon von den ersten Jahren an unterstützte, ist DAHW, die ihren Sitz in Würzburg hat. Mit finanzieller Hilfe aus Europa wurde 1963 mitten in Karachi ein Krankenhaus für Leprapatienten gebaut: das Marie-Adelaide-Leprosy-Center (MALC).
Heute ist es Zentrum der landesweiten Lepraarbeit in Pakistan. Rund 80 Betten besitzt die Klinik in Karachi, weitere 150 sind dezentral im Land verteilt. Mervin Lobo ist inzwischen Geschäftsführer des MALC. Schon seit mehr als 24 Jahren arbeitet er mit der Ordensschwester zusammen. Mit ihm habe sie den idealen Nachfolger gefunden, sagt Ruth Pfau. Bei ihm und dem Team sei ihr Lebenswerk in guten Händen.
Obgleich er sie bei ihrer Arbeit tatkräftig unterstützt, Ruth Pfau ist noch immer das Gesicht der Leprahilfe in Pakistan. Sie vertritt die Projekte in der Öffentlichkeit. Wie etwa im vergangenen Jahr. Da erhielt sie den Bambi in der Kategorie „Stille Helden“. In einem schlichten Zweiteiler betrat sie die Bühne, einen schwarzen Schal hatte sie sich um den Hals gelegt. Sie fiel auf zwischen all dem Glitzer und Glamour. Ruth Pfau ist keine Frau, die sich um des Ruhmes Willen engagiert. Im Gegenteil. Veranstaltungen wie diese waren und sind nicht ihre Welt. Die Ärztin weiß jedoch, dass sie eine gute Gelegenheit bieten, um für ihre Projekte zu werben und Spenden zu akquirieren.
Geld, das sie für ihre Arbeit in Pakistan dringend braucht. Denn trotz ihres Alters ist Ruth Pfau täglich unterwegs für die Benachteiligten Pakistans. Sie reist in die Metropolen ebenso wie in die Slums oder fährt mit dem Geländewagen in entlegene Provinzen des Landes. Oft legt sie mehrere Tausend Kilometer in wenigen Tagen zurück. „Ich bin weitgehend gesund. Ich mache weiter, solange es geht“, sagt sie. Doch hier und da fordern die Jahre harter Arbeit ihren Tribut. „An manchen Tagen erlaube ich es mir nur halbtags zu arbeiten“, sagt sie gegenüber dem DAHW.
Vor mehr als 50 Jahren begann Ruth Pfau ihre Mission. Seit dieser Zeit ist Pakistan ihr Lebensmittelpunkt. Bereut habe sie diesen Schritt nie. „Wir haben alle die Tendenz, wenn wir etwas sehen, das wir verändern könne, etwas zu tun. Die eigentliche Herausforderung ist das Durchhalten“, sagte Pfau einmal. Sie hat durchgehalten.