So vorlaut er auch damals schon war – vorgedrängt hat er sich nicht. „Wegen dieser Lappalien kann ein Bundeskanzler sein Amt nicht aufgeben“, brüllt Helmut Schmidt seinen Parteifreund Willy Brandt an. Der jedoch hat sich nach dem Enttarnen eines DDR-Spions in seinem Vorzimmer und wilden Gerüchten über Frauengeschichten und Alkoholprobleme schon aufgegeben. Gegen seine Depressionen und seine Selbstzweifel kommt auch Schmidt nicht mehr an, der am 16. Mai 1974 als sein Nachfolger vereidigt wird. Warum er zuvor auf Brandt eingeredet hat wie auf einen lahmen Gaul, verrät er aber erst Jahrzehnte später: „Ich wollte dieses Amt nicht, ich hatte Angst davor.“
Schmidt – ein Zauderer? In den turbulenten Wochen vor Brandts Rücktritt fragt er sich gelegentlich, ob er nicht doch auf einen gut dotierten Posten in die Wirtschaft wechseln soll. Wie so oft in der Politik entwickeln die Dinge allerdings auch diesmal eine gewisse Eigendynamik. Als Brandt hinwirft, hat Schmidt gar keine Wahl mehr. Er war Fraktionschef und Verteidigungsminister, er ist amtierender Minister für Wirtschaft und Finanzen, der Nachfolger des legendären Karl Schiller. Wer, wenn nicht er?
„Er war reif für die Kanzlerschaft“, hat sein langjähriger Weggefährte, der Journalist Theo Sommer, einmal über ihn geschrieben. „Auf der Weltbühne bewegte er sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie auf der Bonner Bühne. Dazu kamen eiserner Wille, strenge Selbstdisziplin und ein tiefes Pflichtgefühl.“ Wer also, wenn nicht er?
Gestern ist Helmut Schmidt im Alter von 96 Jahren gestorben. Angst vor dem Tod hatte er nicht. „Das Normale ist ja, dass man in diesem Alter längst auf den Friedhof gehört“, sagt er nach dem Tod seiner Frau Loki im Herbst 2010 in der ihm eigenen Art, so hanseatisch-nüchtern und lakonisch, wie er später auch die Beziehung zu seiner neuen Gefährtin Ruth Loah als „selbstverständliche Entwicklung“ beschreibt, einer Freundin der Familie: „Wir waren aneinander gewöhnt seit Jahrzehnten.“ Auch eine Affäre, die seine Ehe vor Jahrzehnten fast ruiniert hätte, gesteht er eher beiläufig in einem Buch ein: „Ich hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau.“
Bloß keine Gefühle zeigen! Da ist der private Schmidt nicht anders als der politische Schmidt mit seinem legendären Bonmot, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. In der Politik, findet er, „hat keine Emotion und keine Leidenschaft Platz außer der Leidenschaft zur Vernunft“. Auch deshalb ist der Vernunftmensch, schnörkellos, pragmatisch und immer ein wenig unnahbar, zur lebenden Legende geworden: Weltökonom, Welterklärer, Weltendeuter. Einer, dessen Horizont nicht am Tellerrand der Tagespolitik endet, nahezu taub seit Jahren, aber immer neugierig. Markenzeichen: Schnupftabak, Mentholzigarette, Prinz-Heinrich-Mütze.
Andere Kanzler haben mehr hinterlassen: Konrad Adenauer die Westbindung und das beginnende Wirtschaftswunder, Helmut Kohl die Einheit und den Euro, Gerhard Schröder seine Sozialreformen. Schmidts Bilanz ist im Vergleich dazu eher durchwachsen. Seine Popularität speist sich aus anderen Quellen. Eine von ihnen ist das Talent, auch komplizierteste ökonomische Zusammenhänge für jeden verständlich zu erklären, ohne dabei oberlehrerhaft oder gar missionarisch zu wirken. So wächst seine Fangemeinde mit jedem Jahr, das er älter wird, sie macht seine Bücher zu Bestsellern und ihn selbst zu einem nationalen Idol.
In kaum einem lebenden Deutschen bündelt sich so viel an deutscher Geschichte wie im Leben von Helmut Schmidt.
Als der Sohn eines Handelslehrers 1945 aus britischer Gefangenschaft nach Hamburg zurückkehrt, liegt Deutschland in Trümmern. Während seiner Schulzeit hat der junge Helmut sich vor allem für Kunst, Malerei und Musik interessiert, er spielt Orgel und will eigentlich Architekt werden. Gleichzeitig aber spürt er auch, dass nach der Schreckensherrschaft Hitlers, den er „Adolf Nazi“ nennt, nun andere Talente gefragt sind – und andere Haltungen. Noch in der Gefangenschaft ist Schmidt den Sozialdemokraten beigetreten, nun studiert er Volkswirtschaft und Staatswissenschaft, unter anderem bei Karl Schiller, der bald Wirtschaftssenator in Hamburg wird und ihn 1949 in seine Behörde holt. Vier Jahre später sitzt er im Bundestag, ein glänzender Redner, der keinem Streit ausweicht und bald seinen Spitznamen weghat: „Schmidt-Schnauze.“
Ins kollektive Bewusstsein der Deutschen gräbt er sich bei der Flutkatastrophe in Hamburg 1962 ein. Schmidt, gerade erst als Innensenator in seine Heimat zurückgekehrt, hält sich nicht an Dienstwege und Marschbefehle. Obwohl gar nicht dazu befugt, schickt er 8000 Soldaten in den Einsatz und bestellt in Brüssel Hubschrauber aus anderen Nato-Ländern. „Überall waren Menschen auf den Dächern“, erinnert er sich einmal. „Und im Wasser schwammen tote Kühe.“ Von diesem Tag an hat Schmidt seinen Ruf weg: der unerschrockene Macher.
Seine zweite große Bewährungsprobe besteht Schmidt, schon Kanzler, im Terrorjahr 1977. Nachdem ein Kommando der Roten Armee Fraktion Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt hat, befindet sich das Land im Ausnahmezustand.
Zuvor hatte die Bande bereits Generalbundesanwalt Siegfried Buback und den Bankier Jürgen Ponto ermordet, ehe ein befreundetes Palästinenserkommando auch noch eine Maschine der Lufthansa auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt kapert, um die Freilassung mehrerer inhaftierter RAF-Leute zu erzwingen. Am Ende einer Odyssee, die das ganze Land in Atem hält, steht sie auf dem Flughafen im somalischen Mogadischu, und Schmidt gibt den Befehl, sie zu stürmen.
Als sein Vertrauter Hans-Jürgen Wischnewski am 18. Oktober um 0.12 Uhr meldet, dass alle Geiseln befreit sind, hat der sonst so kühle Kanzler Tränen in den Augen. Wäre die Aktion misslungen – er wäre sofort zurückgetreten. Schleyers Tod allerdings kann auch Schmidt nicht verhindern: Seine Leiche wird tags darauf gefunden. In der Nacht zuvor haben im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim bereits die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die von der Erstürmung des Flugzeugs erfahren haben, in ihren Zellen Selbstmord begangen.
Es sind schwere Jahre, in denen Schmidt regiert: Wirtschaftsflaute und Ölkrise, der Kampf gegen die RAF und natürlich der Kalte Krieg. Gleichzeitig verändert sich die innenpolitische Lage in Deutschland dramatisch. Eine ganze Generation beginnt mit der Umwelt- und der Friedensbewegung zu flirten, viele junge Linke begeistern sich nicht mehr für die Sozialdemokratie wie einst unter Brandt, sondern für die gerade entstehenden Grünen.
Auch in der SPD rumort es. Junge Abgeordnete wie er hätten damals gedacht, Schmidt sei zwar der richtige Kanzler, aber in der falschen Partei, erinnert sich der spätere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Muss die Logik des permanenten Wettrüstens nicht durchbrochen werden? Führt das Wachstumsdenken nicht in die ökologische Katastrophe? Während Hunderttausende für eine neue, grünere Politik demonstrieren, bleibt Schmidt sich treu: Sicherheit hat ihren Preis, und sei es in Form neuer Nuklearwaffen auf deutschem Boden.
1982 ist seine sozialliberale Koalition am Ende. In der SPD schwindet der Rückhalt für ihn, während die Liberalen diskret die Wende vorbereiten. Am 1. Oktober stürzen Union und FDP Schmidt durch ein Misstrauensvotum, Helmut Kohl wird Kanzler. Er selbst, sagt der Geschasste später, habe das „mit großer Gelassenheit“ erlebt und insgeheim schon Anfang des Jahres damit gerechnet. Für die SPD jedoch ist die Wende der Beginn einer langen Leidenszeit, die erst mit Schröders Wahlsieg 1998 endet.
Andere hätten danach ihre Memoiren geschrieben – Schmidt nimmt das Angebot der „Zeit“ an und wechselt 1983 zu den „Wegelagerern“, wie er die Journalisten gerne nennt. Er schreibt über den Aufstieg Chinas und die EU, über die amerikanische Immobilienblase und wie im Jahr 2003 über die deutsche Sozialpolitik: „Unsere Löhne sind die höchsten, unsere Ferien die längsten. Wollen wir auch Weltmeister im Jammern werden?“
Es sind die Jahre, in denen aus einem Kanzler, den die Deutschen stets geachtet, aber nie geliebt haben, der Ehrenbürger des neuen Deutschland wird, altersweise und jeder Kritik entrückt. Der Mann, der ein Leben lang seine Frisur nicht geändert hat und der mit einem seiner kurzen, oft etwas abschätzigen Lacher jedes Gegenüber ins Leere laufen lassen kann. „Es gibt kein Thema“, diagnostiziert der „Stern“ einmal, „das der Besserwisser aus Hamburg-Barmbek nicht durch seine Meinung werten oder adeln könnte.“
Im Dezember 2011 redet der Altkanzler zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder vor einem Parteitag der SPD, der Partei, mit der er so oft gehadert hat, der er am Ende aber noch sein Vermächtnis mit auf den Weg gibt, ein Plädoyer für ein solidarisches Europa, wenn man so will. „Unsere große Wiederaufbauleistung“, sagt er, „wäre nicht möglich gewesen ohne die westlichen Siegermächte, ohne die Einbettung in die Europäische Gemeinschaft, den Marshallplan oder das atlantische Bündnis.“ Kurz nur winkt er in den Saal, ehe er sich in seinem Rollstuhl von der Bühne schieben lässt. Unten angekommen, schaut er sich um, kramt in seinem Sakko – und zündet sich eine Zigarette an.