Die Lage in der Ostukraine verschärfe sich, man müsse handeln. Ganz schnell. So raunt es durch Moskau. Das Staatsfernsehen sendet Bilder von weinenden Kindern, die mit Sack und Pack ihr Zuhause haben verlassen müssen, geflohen mit Müttern und Großmüttern, geflohen „vor Schüssen, vor Bomben“, vor der Regierung in Kiew, die „ihre eigenen Leute quält“, heißt es quer durch die Sendungen.
Das Eilige, Plötzliche, Unerwartete, das der russische Staat da zu inszenieren versucht, stellt sich bereits nach kurzer Zeit als eine lang geplante Operation heraus. Eine Schmierenkomödie nach Kreml-Art, die wie nie zuvor den russischen Feldzug gegen einen Nachbarstaat offenlegt, dem Moskau die Staatlichkeit aberkennt. „Eine seit Langem überfällige Entscheidung“, nennt Wladimir Putin die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine. Knapp eine Stunde lang verliert er sich am Montagabend in hanebüchenen Details, bevor er das entsprechende Papier unterzeichnet. Alle sollen es hören, was der aufgebrachte und aufgedunsen wirkende Mann fast wie ein Besessener seinem Volk – und nicht nur ihm – mitzuteilen hat. Seine Ansichten, die er als die einzig Wahren verkauft.
Die moderne Ukraine, führt Putin live im Fernsehen aus, sei eine Erschaffung Russlands. „Des bolschewistischen, des kommunistischen Russlands“, fügt er hinzu, hält sich an seinem Tisch fest und poltert weiter. Vor sich die Telefone, hinter sich die russische Flagge. Die Ukraine sei ein Produkt Lenins, ein Geschenk der Sowjetunion, mit dem all ihre ukrainischen Führungspersonen nichts anfangen hätten können. Eine „Kolonie mit Marionetten-Regime“, nennt Putin die jetzige Regierung in Kiew.
Seine Ausführungen, emotional, teils tief schnaufend vorgetragen, sollen erklären, dass Russland, dieses vermeintlich vom Westen tief bedrängte und stark bedrohte Land, gar keine andere Wahl gehabt habe, als „diesen Weg des Friedens“ zu gehen und den „Gequälten und Geschundenen“ in der Ostukraine beizustehen. Der russische Präsident sagt tatsächlich: „Russland hat alles getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“
Der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, den Putin mit den „Oberhäuptern“ der beiden „Volksrepubliken“ kurz zuvor unterschrieben hat, hat eine Klausel zum „militärischen Beistand“. Damit könnte Russland, wie bereits in den von Georgien abtrünnigen und von Russland ebenfalls anerkannten Gebieten Abchasien und Süd-Ossetien, Tausende Soldaten in der Ostukraine stationieren.
In den Separatistengebieten gibt es in der Nacht zum Dienstag Feuerwerke. In Moskau können auch am Tag danach viele Menschen nicht fassen, was ihr Präsident da von sich gegeben hat. „Warum? Wofür? Und wir müssen jetzt leiden.“ Putins Rede ist selbst an der Supermarktkasse das alles dominierende Thema. Andere freuen sich: „Endlich haben wir es den Amerikanern gezeigt.“
Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht. Sein Fernsehauftritt zeigt die moralische Vernichtung eines Staates, den Russland nie verstanden hat. Damit führt der Kremlherrscher seine Gedanken, die er bereits im vergangenen Sommer in einem Essay niedergeschrieben hatte, fort. Er war in etwa vier Mal so lang wie der Text auf dieser Zeitungsseite – und Hobbyhistoriker Putin umspannt darin zwölf Jahrhunderte osteuropäischer Geschichte. „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ hatte er den wichtigsten Abschnitt darin genannt, auf der Internetseite des Kreml findet sich das Dokument in russischer wie ukrainischer Sprache. Immerhin die Sprache scheint er als Bestehendes wahrzunehmen. „Doch gibt es die Ukraine wirklich?“, fragt er im Text und liefert die Antwort: Nein. Seine Formel: Großrussen, Kleinrussen (Ukrainer) und Belarussen seien ein einziges, ein „dreieiniges“ russisches Volk und nicht voneinander zu trennen. Alles andere sei eine „Erfindung ohne historische Basis“. Was der 69-Jährige schon in seinen damaligen Ausführungen negiert, ist die Tatsache, wie Historiker einen modernen Nationalstaat kennzeichnen. Der Definition zufolge sind moderne Nationen immer erfunden, entstanden durch die Ideen einer gesellschaftlichen Elite: „Imaginierte Gemeinschaft“, nennen Historikerinnen und Historiker das. Manche entstehen früher, andere entstehen später.
Die Ukraine ist spät entstanden. Im Zuge der Februarrevolution 1917 hatten sich in Kiew Vertreter aus Politik, Kultur und Berufsverbänden für eine provisorische ukrainische Regierung ausgesprochen. Im November 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik ausgerufen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee 1920 schon wieder Geschichte war. Die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion und 1991, nach dem Zerfall dieser, wieder unabhängig. Schon bei der Auflösung des Sowjetstaates hätten die Grenzen der Ukraine „reduziert“ werden müssen, schreibt Putin. Darauf weist er auch nochmals in seiner Montagsrede hin. Lenin habe eben Fehler gemacht, ohne an die Zukunft zu denken, sagt er im Fernsehen.
Die Bolschewiki hätten sich dann mit allen Mitteln an der Macht halten wollen, deshalb dieser „Wahnsinn“, der so viele Nationalisten in der heutigen Ukraine gebäre. Was das alles miteinander zu tun hat, versteht selbst in Russland niemand so recht. Aber Putin fährt fort mit seinem merk- wie denkwürdigen Exkurs. Die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er Jahren wiederum sei ein „Fehler“ der Kommunistischen Partei unter Michail Gorbatschow gewesen. Fortan habe die Ukraine „mechanisch fremde Modelle kopiert“, die ihr „Radikale“ diktiert hätten. Sogar eine Atombombe könnten die Ukrainer bauen, „noch mit sowjetischem Können“, gibt sich Putin warnend. Das sei eine Gefahr für die Menschheit. Ohnehin drangsaliere Kiew sein Volk mit hohen Gaspreisen, verletze Menschenrechte, verfolge die Opposition, begehe „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung. Das ist Putins gern gebrauchter Begriff, um zu zeigen, wie schlimm es um die Ukraine angeblich stehe und wie gut es sei, dass sie Russland als Nachbarn habe. Es ist eine verkehrte Welt.
Eine, die allerdings bei vielen Russen greift. Die staatliche Propaganda tut seit Jahren Enormes, um die Bedrohung durch die Nato, die in Putins Augen auch Kiew mitträgt, zur realen Angst der Menschen zu machen.
Putins „Geschichtsstunde“ geht eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus. Sie wird als live verkauft, die Uhr des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu zeigt allerdings fünf Stunden vorher an. Die Sitzung wirkt wie der Versuch eines Theaterstücks von Zweitklässlern: Nacheinander treten die Mitglieder des Rates – Russlands Außenminister Sergej Lawrow, Verteidigungsminister Sergej Schojgu, Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew, Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin, die Vorsitzende des Föderationsrates, Walentina Matwijenko, und andere – an das Redepult im prächtigen Katharinensaal des Kremls und flehen Putin geradezu an, die „Volksrepubliken“ anzuerkennen. „Die Zeit ist gekommen, Aufschub nicht mehr möglich“, beschwört Matwijenko.
Äußerst peinlich: Sergej Naryschkin, seines Zeichens Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, einer der engsten Berater Putins. Er stockt, er weiß nicht recht, was er sagen soll, ähm, hmm, ja. Er verspricht sich und sagt gar den Satz, dass er sich für den Anschluss des Donbass an Russland ausspreche.
Putin lächelt, Putin herrscht ihn an: „Darum geht es nicht. Setzen Sie sich!“ Der Oberlehrer weiß ohnehin alles besser.
Vorerst geht es in der Tat nicht „darum“, die Rede Putins legt allerdings nahe, dass die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine lediglich die Vorstufe zum Anschluss sein dürfte. Es war bereits bei der Krim 2014 ähnlich.
„Warum macht man aus uns einen Feind?“, fragt Putin – und antwortet sogleich selbst: „Sie brauchen solch ein großes und selbstständiges Land wie uns nicht.“ „Sie“, das ist der Westen, Putins offensichtliches Trauma. Ein Trauma, das die russische Führung stets beleidigt auftreten lässt. In dieser Rolle des „Obischenny“ – der Begriff des „Gekränkten“ ist ein sehr russischer, täglich gebraucht für jegliche auch noch kleinste Kritik an einem selbst – fährt Putin mit der Anklage seines Lieblingsfeindes fort. „Das treibt Amerika an. Ihr einziges Ziel ist es, uns zu bezwingen.“ Es ist gespenstisch. Und es ist Putins Prolog zu einem Krieg.
amerikanischer Weltanschauung versucht sich mit Herrn Lawrow und Co.
Ich könnte kotzen und bin am verzweifeln. Deutsches Land der Dichter und Denker,
der Ingenieure ,Erfinder und Schaffenden QUO VADIS ?
souveränes Land ist zu verurteilen. Aber man sollte nicht außer acht lassen, was dazu geführt hat. Seit vielen Jahren versucht der Westen mit der Ukraine einen Brückenkopf gegen Russland zu installieren. Dazu wurden eine Reihe von seltsamen Regierungen unterstützt. Frau Merkel huldigte immer wieder der Ukraine und setzte große finanzielle Unterstützung frei. Wenn der Westen sich nicht aus Eigennutz in die Probleme der Ukraine eingemischt hätte, gäbe es die heutige Situation nicht. Das hat nichts mit Putinverstehern und sonstwas zu tun, das ist die Sachlage. Auch hätte Deutschland die Möglichkeit gehabt Druck zur Umsetzung von Minsk 2 zu machen.Tja,...
Jetzt ist das Geschrei groß, daß diese "westliche Strategie" gescheitert ist.