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„Die Gruppen im Irak sollen den Konflikt unter sich austragen“
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 14.10.2014 19:33 Uhr

Als es vor 25 Jahren um die deutsche Einheit ging, war Horst Teltschik als Vize-Chef des Bundeskanzleramts einer der engsten Berater von Helmut Kohl. Später machte er sich als Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz auch international einen Namen. Noch heute ist der 74-Jährige als Vortragsredner zu Außen- und Sicherheitspolitik gefragt, in Würzburg sprach er vor knapp 1000 Zuhörern bei einer Veranstaltung der Sparkasse Mainfranken. Zuvor gab er dieser Zeitung ein Interview.

Frage: Dieser Tage sorgen wenig schmeichelhafte Äußerungen von Helmut Kohl über politische Weggefährten für Schlagzeilen. Überraschen oder amüsieren Sie die Veröffentlichungen?

Horst Teltschik: Für mich sind sie nicht überraschend, weil ich 19 Jahre mit Helmut Kohl zusammengearbeitet habe. Er wäre der erste Politiker, der sich nicht auch mal über Kollegen und Parteigenossen aufgeregt hätte. Ich kann mich an Vier-Augen-Gespräche mit Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß erinnern, auch deren Urteile waren nicht immer schmeichelhaft. Das ist doch menschlich. Was ich unerträglich finde, ist der Vertrauensbruch von Heribert Schwan, dem Ghostwriter der Kohl-Memoiren. Der Altkanzler hat ihm vertraut und äußerte sich deshalb unbekümmert. Schwan hat dieses Vertrauen gebrochen, deshalb halte ich sein Buch für ein unanständiges Buch.

Deutschland feiert dieser Tage 25 Jahre Mauerfall. Sie haben die Politik 1989 und 1990 entscheidend mitgestaltet. Haben Sie den Zusammenbruch des Ostens kommen sehen?

Teltschik: Wir standen seit 1984 in engem Kontakt zur ungarischen Führung und haben den Reformprozess in Budapest unterstützt. Seit Februar 1989 habe ich Verhandlungen mit Polen geführt. Und ich habe den Bundeskanzler bei allen Gesprächen mit Gorbatschow begleitet, Perestroika und Glasnost selbst erlebt. Als dann die Fluchtbewegung begann, war absehbar, dass auch in der DDR Veränderungen anstehen. Dass es mit der Einheit so schnell geht, konnte aber niemand voraussagen. Als wir den Zehn-Punkte-Plan Ende November vorbereitet und mit Helmut Kohl besprochen haben, war unsere Erwartung, dass wir nach dem Mauerfall zehn bis 15 Jahre brauchen, um Deutschland zu einigen. Es hat dann nicht mal ein Jahr gedauert.

Gibt es etwas, was Sie im Zuge der Wiedervereinigung gerne anders gemacht hätten?

Teltschik: International haben wir alles richtig gemacht. Ich weiß, das hört sich ziemlich präpotent an, aber selbst die SPD sagt das, viele Kohl-Kritiker auch.

Und innenpolitisch?

Teltschik: Da ist man heute klüger. Ein Geheimbericht für das SED-Politbüro bot Ende Oktober 1989 eine schonungslose Analyse der katastrophalen wirtschaftlichen Lage der DDR. Nur, wir kannten diesen Bericht nicht. Der BND war nicht in der Lage, ihn an Land zu ziehen. Wenn wir das Ausmaß des Niedergangs der DDR-Wirtschaft gewusst hätten, wäre manches etwas anders entschieden worden. Gleichwohl gilt: Wenn heute über 90 Prozent der jungen Menschen unter 30 sagen, die Wiedervereinigung war ein Glücksfall, dann haben wir eigentlich alles gut gemacht.

Es gibt aktuell Streit unter Zeithistorikern, was in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen zur Einheit in Sachen Nato-Osterweiterung beschlossen wurde. Gab es eine Zusage, das West-Bündnis nicht auf frühere Warschauer-Pakt-Staaten auszudehnen?

Teltschik: Nein. Im Sommer 1990 konnte doch niemand ahnen, dass am Ende des folgenden Jahres die Sowjetunion nicht mehr existiert, dass die baltischen Staaten dann souveräne Republiken sind. Keiner hat damals wissen können, dass sich im Frühjahr 1991 der Warschauer Pakt friedlich und fast lautlos auflöst. Wir wären Hellseher gewesen.

Gleichwohl kritisieren Sie heute im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise, der Westen habe Russland in der Vergangenheit Angebote gemacht, die nicht eingehalten wurden. Welche?

Teltschik: Ein Beispiel: EU-Kommissionspräsident Prodi hatte Präsident Putin einst vorgeschlagen, eine gesamteuropäische Freihandelszone zu verhandeln – von Lissabon bis Wladiwostok. Keiner in Europa hat diese Idee unterstützt. Viele nannten als Ausrede, Russland müsse erst Mitglied der WTO, der Welthandelsorganisation, werden. Mittlerweile ist Russland bei der WTO dabei und Putin hat die Kommission im Januar dieses Jahres beim EU-Russland-Gipfel an diese Idee erinnert. Erneut hat sich nichts getan. Nun stelle ich, ohne sie beweisen zu können, die Behauptung auf: Wenn die EU-Kommission gesagt hätte, ihr seid jetzt Mitglied der WTO, jetzt können wir über die Freihandelszone verhandeln, dann wäre vielleicht die Ukraine-Krise gar nicht ausgebrochen.

Eine Erklärung für Putins Eingreifen in der Ukraine?

Teltschik: Russland ist enttäuscht, dass viele Dinge nicht so gelaufen sind wie erhofft. Viele im Westen haben die Entwicklung der Beziehungen zu Russland nicht für nötig empfunden. Man hat zudem nur ungenügend wahrgenommen, was die Russen für ein starkes Sicherheitsbedürfnis haben. Das ist zwar auch aus meiner Sicht maßlos übertrieben, die Nato ist kein Gegner. In der Politik aber ist die gefühlte Wahrnehmung oft wichtiger als die Realität.

Was muss passieren, um die Krise zu entschärfen?

Teltschik: Man kann überall anknüpfen, man muss es nur wollen. Europa könnte über eine Freihandelszone verhandeln, mit Russland über Visa-Freiheit reden. Bilateral gibt es viel zu erhalten, den Jugend- und den Wissenschaftsaustausch, die wirtschaftlichen Kontakte. 6300 deutsche Firmen sind in Russland tätig. Ich habe große Sorge, dass wir das alles kaputt machen. Wir können Russland nicht von außen verändern, aber durch Zusammenarbeit können wir Einfluss nehmen.

Was halten Sie von den Sanktionen?

Teltschik: Nichts. Wir bestrafen uns selbst am meisten. In Russland treffen die Sanktionen nicht die Großen, sondern die kleinen Leute. Doch die werden es aushalten wie die Zumutungen all die Jahrhunderte zuvor und notfalls halt mehr Wodka trinken.

Sie fordern eine neue europäische Sicherheitspolitik. Was würden Sie sich denn vom Westen im Umgang mit den IS-Milizen im Nahen Osten wünschen?

Teltschik: Wünsche helfen da nicht. Die Frage ist vielmehr: Müssen wir uns überhaupt einmischen? Wem wollen wir da eigentlich helfen? Der irakischen Regierung oder dem syrischen Präsidenten? Wollen wir jetzt wieder mit Assad zusammenarbeiten, um Syrien zu stabilisieren?

Berechtigte Einwände. Aber kann man zuschauen, wenn Menschen geköpft werden?

Teltschik: Soll ich Ihnen mal die Mordtaten der letzten zehn Jahre aufzählen? Haben wir in Afrika eingegriffen, als in Ruanda 800 000 Tutsi abgeschlachtet wurden? Nein, dabei war das mindestens so grausam wie das IS-Vorgehen in Irak. Wo ist der Maßstab? Greifen wir ein, wenn drei Menschen enthauptet werden, oder erst bei 300 oder bei 1000? Der Krieg in Syrien hat mittlerweile 140 000 Tote gekostet. Haben wir eingegriffen? Nein. Ein Militäreinsatz im Irak hat aus meiner Sicht nur Sinn, wenn Sie hinterher die Stabilität des Landes garantieren können. Aber das können wir nicht. Deshalb würde ich sagen: Die Gruppen dort sollen den Konflikt unter sich austragen. Unsere Aufgabe kann nur sein, ein Übergreifen der Gewalt auf den Nato-Partner Türkei, auf Israel oder Jordanien zu verhindern.

Laut Regierung ist auch unsere Sicherheit bedroht.

Teltschik: Das haben wir in Afghanistan auch gesagt. Jetzt ziehen wir ab und dort, wo wir abgezogen sind, herrscht schon wieder Terror.

Immer wieder heißt es, Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen, auch militärisch. Würden Sie das unterschrieben?

Teltschik: Dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss, hat Helmut Kohl schon am Tag nach der Wiedervereinigung gesagt. Das ist auch logisch. Die Bundesrepublik liegt im Herzen Europas. Wir sind wirtschaftlich die Stärksten und damit – ob wir wollen oder nicht – politisch dominant. Das heißt, wir müssen auch im Interesse unserer Nachbarn aktiv werden. Am besten zunächst gemeinsam mit Frankreich und Polen, und dann auf europäischer Ebene. Wahrscheinlich helfen die aktuellen internationalen Krisen, um zu begreifen, alleine geht es nicht. In Russland nicht, im Nahen Osten nicht, in Afrika auch nicht. Vielleicht aber muss der Druck von außen auch noch wachsen.

Horst Teltschik

Der Diplompolitologe arbeitete seit 1972 für Helmut Kohl. Mit dessen Wahl zum Regierungschef wechselte Horst Teltschik 1982 als stellvertretender Leiter ins Bundeskanzleramt. 1989/90 war er maßgeblich an den Verhandlungen zur deutschen Einheit beteiligt. 1991 stieg Teltschik überraschend aus der Spitzenpolitik aus. Er wurde Geschäftsführer der Bertelsmann-Stiftung, später Vorstand bei BMW und Präsident von Boeing Deutschland. Von 1999 bis 2008 leitete der heute 74-Jährige die Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik. Außerdem war er als Honorarprofessor an der TU München tätig. MICZ/FOTO: Th. Müller

„In der Politik ist die gefühlte Wahrnehmung oft wichtiger als die Realität.“
Horst Teltschik, Russland-Experte
 
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