Mein großer Sohn ist keiner, der freiwillig ins Freie geht. Klar bewegt er sich nach draußen – irgendwie muss er ja zur Uni, zu den Kumpels oder ins Fitness-Studio gelangen. Aber ohne festes Ziel an die frische Luft? Undenkbar.
Man kann sich mein Erstaunen vorstellen, als der Große vor ein paar Tagen ankündigte, er wolle spazierengehen. Ich schob sein untypisches Verhalten auf akuten Prüfungsstress. Am nächsten Tag drängte auch der wenig stressgeplagte jüngere Sohn nach draußen. Sogar die Tochter, die Spaziergänge noch mehr hasst als Zimmeraufräumen, schloss sich an. „Das ist super, dass ihr von alleine an die frische Luft geht“, sagte ich. Da kicherte die Tochter.
Weshalb die drei von Stubenhockern zu Naturfreunden geworden sind, erfuhr ich am Sonntag beim Kuchenessen auf unserer Terrasse. Da teilte der Große nach einem Blick auf sein Smartphone mit, dass direkt neben dem Erdbeerkuchen ein Pokémon in der Sahneschüssel sitze. „Unsinn“, sagte die Oma. Für sie sehe die Sahne tadellos aus; da sei sicher kein Vieh drin. „Doch, ein Taubsi!“, sagte die Tochter und hielt Oma den Handybildschirm vor die Nase. Er zeigte die korrekte Kameraansicht unseres Terrassentischs, samt Kuchengabeln, Tellern und Sahneschüssel. In der Sahne flatterte, virtuell draufmontiert, ein kleiner, gelber Kampfhahn – ein Taubsi.
„Fang ihn“, rief die Tochter. Per Handy warf der Große eine Art Netz über das virtuelle Vieh. „Jetzt habe ich schon 41 Pokémons“, sagte er. Wie sich herausstellte, hatte der große Sohn die Klausurenvorbereitungsphase genutzt, um sich vorab das Computerspiel „Pokemon Go“ herunterzuladen, das erst seit Mittwoch offiziell auf dem deutschen Markt ist. Wer in „Pokémon Go“ erfolgreich sein will, muss entweder virtuelle Tierchen fangen oder virtuelle Eier ausbrüten. Und für beides müssen die Spieler zu Fuß unterwegs sein!
Auch wenn ich ansonsten Computerspielen misstraue – „Pokémon Go“ gönne ich den Kindern. Freudig werden sie in den Sommerferien für mich zum Einkaufen, zum Altglascontainer, zur Post und zum Bäcker laufen. Nach Jahren der Komplettverweigerung werden sie uns bereitwillig bei Sonntagsspaziergängen begleiten. Sogar in den Urlaub wollen sie ohne Gezeter mitkommen – an Spaniens Küsten könnten ja exotische Pokémons auf sie warten.