
Also reden kann er, sagt ein älterer Herr beeindruckt, nachdem er eine Stunde lang zugehört hat, wie Gregor Gysi, Linke-Fraktionsvorsitzender und Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf, am Schweinfurter Wichtermann-Platz darlegt, warum man die Linke wählen soll, ja muss. Vor ihm hat das Bundestagskandidat und Ex-Bundesvorsitzender Klaus Ernst getan.
Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache hat Gysi kürzlich attestiert, der beste Wahlkampfredner zu sein. Er ist ein brillanter Redner, das werden ihm wohl sogar seine Feinde zugestehen – jene Leute, oft Freunde und Weggefährten, mit denen er sich auf seinem Weg durch die Politik zerstritten hat. Und wohl auch die Leute, die ihm Stasi-Verbindungen vorwerfen, die, die ihn nicht mögen. Es gibt wohl kaum einen Politiker, der so polarisiert: Er wird verehrt, er wird gehasst.
Wahrscheinlich ist Gysi ein so großartiger Redner, weil er ein altmodischer ist. Was er sagt, erinnert an eine dieser Reden, die man früher im Lateinunterricht übersetzt hat. Seine Rede ist stringent, geschliffen. Sie ist verständlich, leidenschaftlich und humorvoll. Sie bezieht die Zuhörer ein, ohne sich anzubiedern, sie erläutert, ohne belehrend zu sein. Gysi gibt Antworten auf die Fragen, die er stellt. Er erklärt, wie das funktionieren will, was er vorhat. Wo das Geld herkommen soll. Was sich warum ändern muss, logisch, Schritt für Schritt. Obwohl die Menschen, die ihm zuhören, größtenteils aus seinem Lager sind. Das wird er wissen, trotzdem will er überzeugen.
Als Zuhörer fragt man sich, wann und warum die Rhetorik, die Kunst der Rede, offenbar aus der Politik verschwunden ist. Man fragt sich, warum Slogans reichen, sich wohl nur wenige im Politzirkus die Mühe machen, ihr Publikum mit ihrer Sprachgewalt überzeugen zu wollen, statt einfach ein paar Tweets in die Welt zu setzen. Reicht ja. Und auf Facebook ist ja auch schnell was gepostet. Da braucht man keine Rhetorik.
Gregor Gysi jedenfalls kann und will reden. Er kommt immer wieder auf seinen Ausgangspunkt zurück: Wer die Linke wählt, wählt Widerstand. Widerstand ist gut für die Demokratie, weil diskutiert wird. Wer die Linke wählt, verändert andere Parteien, legt Gysi dar. „Wenn sie uns wählen, werden die Grünen friedlicher, die SPD sozialdemokratischer und sogar die Union bekommt einen sozialen Touch.“
Irgendjemand hat in der letzten Zeit mal geschrieben, Gregor Gysi kämpfe jetzt den Kampf seines Lebens. Den Eindruck könnte man haben. Nach persönlichen Schicksalsschlägen und den Kämpfen in der eigenen Partei scheint der Rechtsanwalt ein großes Ziel zu haben: Rot-Rot. Vielleicht nicht bei dieser Wahl. Aber nach der Wahl ist ja schließlich vor der Wahl. Rot-Rot nicht nur, um an die Macht zu kommen. Gysi scheint überzeugt, dass mit den Linken als Partner die SPD wieder sozialdemokratisch sein kann. Und dass das bitter nötig wäre. Trotz der momentanen „Auschließeritis“ der SPD, was ein Bündnis mit der Linken angeht. Gysi listet auf, wofür die Linke steht, was sich mit ihr als Koalitionspartner erreichen ließe: Dass deutsche Soldaten nicht mehr an Kriegen beteiligt sind. Rein aus der historischen Verantwortung Deutschlands heraus verbiete sich das. Dass Menschen von ihrer Arbeit leben können. Schluss mit Leiharbeit, Befristungen, prekären Beschäftigungsverhältnissen. Schluss mit Renten, von denen keiner ohne zusätzliche Unterstützung leben kann. Und Schluss mit dem jetzigen Hartz-IV-System. Demütigend nennt er das, fordert sanktionsfreie Mindestsicherung. Schluss mit Zwei-Klassen-Medizin. Ein Kriterium nur soll es bei der Behandlung geben: die Erkrankung. Sonst nichts. Schluss mit dem Bildungssystem aus der Kaiserzeit, anders in jedem Bundesland. „Bildung ist das Wichtigste für mich“, sagt Gysi, da wird er richtig leidenschaftlich. „Wir brauchen Schulen, die Begabungen erkennen und fördern.“ Und unbedingt Schluss mit dem Betreuungsgeld. Tiefstes Mittelalter sei das, führe dazu, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund dann noch weniger Chancen haben, wenn sie nicht in die Kinderbetreuung geschickt werden, weil die Eltern das Geld brauchen können. Und um die Mitte der Gesellschaft will sich Gysi kümmern. Die muss nämlich alles bezahlen. Weil die Armen nicht können, und die Reichen nicht sollen – oder wollen. „Die Linke ist die Partei der Mitte der Gesellschaft“, sagt er. Und fügt als guter Rhetoriker hinzu: „Ich gebe zu, dass die Mitte das noch nicht weiß.“
Wen das jetzt noch nicht überzeugt hat, warum die Linke wichtig ist für die Demokratie, dem sagt Gysi, warum er seine Partei wählen soll. Er mag es nicht, wenn nach der Wahl die Fraktionsvorsitzenden der anderen vier Parteien zu ihm kommen, ihm gönnerhaft die Hand auf die Schulter legen und sagen „wird schon wieder“. Umgekehrt wäre es ihm lieber, sagt er: Zu allen vieren hingehen, ihnen nach der Bundestagswahl die Hand auf die Schulter legen und sagen „Wird schon wieder.“ Das ist sein Traum.