Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag“ – mit diesem Satz fing der Aufstand an. Als Nicole von Horst (25) am Donnerstagabend als Reaktion auf die Sexismusdebatte um FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle (67) von sexistischen Erlebnissen twitterte, wusste sie nicht, was sie damit lostreten würde. Kurz darauf schlug ihr Anne Wizorek (31) vor, bei Twitter das Stichwort „#Aufschrei“ (ein sogenannter Hashtag) einzurichten, wo Frauen über Sexismus im Alltag berichten können. Die Idee kam an. Schnell melden sich Betroffene.
Caro Usel: „Der Taxifahrer, der meinte, dass er mich gratis fahren würde, wenn ich dafür was mit ihm trinken ginge.“ Oder Elquee: „Der zudringliche Automobilklub-Pannenhelfer, nachts auf der Autobahn, der statt Rechnung das anders regeln wollte.“ Oder schwarzblond: „Frühmorgens, Großstadt, an der Ampel, auf einmal eine wildfremde Hand an meiner Anzughose. Süßer Hintern.“
Inzwischen sind es Tausende Beiträge. #Aufschrei hat im Internet die Runde gemacht. Die Beiträge zeigen: Sexismus im Alltag ist keine Seltenheit, sondern ein Thema, das viele Frauen beschäftigt. Twitter ist ihr Sprachrohr. Und Anne Wizorek und Nicole von Horst geben ihnen eine Stimme.
Die #Aufschrei-Initiatorinnen sind plötzlich gefragte Interviewpartnerinnen. Sonntagabend saß Wizorek neben Günther Jauch und diskutierte im Fernsehen über Sexismus in Deutschland.
Die Debatte sei längst überfällig, meinen die beiden Initiatorinnen. Viele Männer würden den alltäglichen Sexismus gar nicht wahrnehmen, sagte von Horst in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“.
Anna Tabea Hönscheid pflichtet ihr auf Twitter bei: „Wusstet ihr etwa wirklich nicht, wie oft Frauen Sexismus, Erniedrigung, Übergriffen ausgesetzt sind?“ „Könnt ihr euch vorstellen, dass man in solchen Fällen als Frau/als Mädchen zu geschockt ist, um zu handeln?“, fragt Rya. Mahriah schrieb: „Dank der #Aufschrei-Tweets fühle ich mich nicht mehr allein.“
#Aufschrei ist keine männerfreie Twitterzone. Die Reaktionen der männlichen Tweeter variieren stark. Von ergriffen: „#Aufschrei gelesen. Jetzt sehr traurig.“ (Michael Seemann); über unterstützend: „Was für Sexismus im Alltag gilt, gilt übrigens auch für jede andere Form der Diskriminierung. Ein guter Grund, das zu ändern.“ (Christoph Brückmann); bis kritisch: „Was gut wäre: Wenn in der #Aufschrei-Debatte zwischen Sexismus und sexueller Nötigung unterschieden werden würde“ (Daniel Bröckerhoff). Und es gibt auch ironische Reaktionen: „Meine Frau wollte auch etwas zu #Aufschrei twittern. Das WLAN reicht aber nicht bis in die Küche“ (gallenbitter). „Meine sexistische Nachbarin will wieder eine Tasse Saft ,borgen‘. ich möchte das nicht!“ (Niels Ruf).
Digital zieht die Sexismusdebatte weitere Kreise. Auch unter #streetharassment wird getweetet, geschimpft und diskutiert. Inzwischen haben die Initiatorinnen von #Aufschrei die Internetseite alltagssexismus.de eingerichtet, auf der ausführliche Beiträge auch ohne Twitteraccount möglich sind.
In der analogen Welt tut sich ebenfalls etwas: Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler hat sich in der Sexismus-Debatte erstmals zu Wort gemeldet und Fraktionschef Rainer Brüderle den Rücken gestärkt. „Die Vorwürfe gegen ihn sind durchsichtig und haltlos. Das ist eine Kampagne gegen die gesamte FDP“, sagte Rösler dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Gleichwohl sei eine gesellschaftliche Debatte über Sexismus notwendig, fügte der Vizekanzler und Wirtschaftsminister hinzu. „Denn es gibt offenbar ein breites Bedürfnis, darüber zu diskutieren, aber bitte auf der Sachebene und nicht mit aggressiver Polemik.“
Noch zu Wochenbeginn hatte FDP-Generalsekretär Patrick Döring erklärt, Rösler wolle keine Stellung beziehen. Dies sei mit Brüderle, dem FDP-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, abgesprochen gewesen. Nun scheint in der Parteispitze der Eindruck gereift zu sein, dass die FDP der intensiv geführten öffentlichen Sexismus-Debatte nicht länger ausweichen sollte.
Brüderle selbst hatte in einer Sitzung des FDP-Präsidiums deutlich gemacht, dass er weiterhin schweigen will. Offen war am Dienstag, ob Brüderles übliches Pressefrühstück mit Journalisten an diesem Mittwoch nun stattfindet oder nicht. Dann könnte er auf die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich treffen. Die Reporterin hatte in einem Porträt über Brüderle geschrieben, dieser habe sich – vor über einem Jahr an einer Hotelbar – ihr gegenüber anzüglich geäußert.
FDP-Bundesvorstandsmitglied Manuel Höferlin sagte der „Bild“-Zeitung: „Die Vorwürfe schaden uns nicht, im Gegenteil: Sie schweißen die FDP eher zusammen und stärken uns.“ So sieht es auch Parteivize Holger Zastrow. „Jeder normale Bürger erkennt, dass es offensichtlich eine komische Inszenierung gegen Brüderle und die FDP ist“, sagte er zu „Bild“. Mit Informationen von DPA