Es ist nicht leicht, Reinhard Erös von weitem zu erkennen, wenn er im Osten Afghanistans unterwegs ist: Mit Bart und in Landestracht fällt er optisch nicht aus dem Rahmen, wenn der Ältestenrat eines Dorfes tagt, in dem seine Kinderhilfe-Afghanistan ein Projekt unterhält. Die Nähe zu der Bevölkerung ist Programm. Wir sprachen mit dem Experten für das Land am Hindukusch über die aktuelle Lage in Afghanistan.
Reinhard Erös: Für die einheimische Bevölkerung hat sich die Sicherheitslage seit 2006/2007 kontinuierlich verschlechtert. Sie ist heute dramatisch. Das liegt – anders als in Deutschland meist angenommen – gar nicht in erster Linie an Attentaten oder Angriffen der Rebellen, sondern an der extrem gestiegenen Kriminalität. Brutale Überfälle, Entführungen, bewaffnete Autodiebstähle, ja sogar Banküberfälle gehören zum Alltag.
Erös: Was kann die schon machen? Sie hält sich raus. Jeder Polizist hat am Morgen nur ein Ziel. Lebend und mit beiden Beinen und Armen am Abend nach Hause zu kommen. Polizist in Afghanistan zu sein, ist derzeit einer der gefährlichsten Jobs der Welt.
Erös: Der hat im Jahr 2012 nach einem Bericht der UN mit zuletzt unfassbaren 5800 Tonnen einen neuen Höchststand erreicht. Das läuft wie ein ganz regulärer Handel mit Lastwagen im großen Stil ab – weitgehend unbehelligt von den örtlichen Sicherheitskräften. Die NATO hat längst aufgegeben, gegen den Drogenanbau und -handel vorzugehen.
Erös: Eigentlich nur wenig. Seit die US-Truppen aus der Provinz Laghman, in der der Schwerpunkt unserer Tätigkeit liegt, abgezogen sind, ist es militärisch ruhiger geworden. Sie waren schließlich das Hauptziel für Taliban-Angriffe. Ein Grundsatz unserer Arbeit war schon immer, räumlich und organisatorisch strenge Distanz zu den ausländischen Truppen zu halten. Das hat uns in der Vergangenheit vor Übergriffen geschützt und ist nun noch leichter durchzuhalten.
Erös: Zunächst einmal: Was heißt Abzug? Afghanistan ist geostrategisch für die USA derart wichtig, dass sie auch nach 2014 militärisch präsent bleiben wird. Im US-Kongress wird bereits über vier bis fünf Basen diskutiert, die weiter betrieben werden sollen. Die Deutschen wollen ja ihre Ausbildungsmission fortsetzen. Wer die bis zu 800 Leute schützen soll, steht allerdings in den Sternen. Auf die afghanische Armee zu setzen, ist aberwitzig.
Erös: Die reichen Afghanen – es gibt gar nicht so wenige davon – haben sich längst ihre Zweitwohnsitze in Dubai und anderswo gesichert. Dabei handelt es sich um Tausende, die auf dem Sprung sind, weil sie bei einem Teilabzug der Ausländer auch in den Städten nicht mehr sicher wären. Die Masse muss hoffen, dass die Situation nicht weiter eskaliert.
Erös: Die Armee wurde ja von vorneherein nicht dafür aufgestellt und trainiert, einen Angriff von außen abzuwehren. Ihre Aufgabe wird sein, im Inneren für Ruhe zu sorgen. Doch auch dafür ist sie völlig ungeeignet.
Erös: Ein Beispiel: Die Paschtunen stellen zwar rund 50 Prozent der Bevölkerung, aber nur 15 Prozent der Soldaten in der Armee. Nun sind die Taliban aber gerade im Paschtunen-Gebiet, also im Osten und Süden des Landes, stark. Dort soll also eine Armee den Frieden sichern, deren Soldaten in der Mehrheit gar nicht die Sprache der Paschtunen versteht. Sie wird dort ein Fremdkörper sein, und das kann nicht gut gehen. Grundsätzlich wurde ab 2002 versäumt, gut ausgebildete Leute für die Streitkräfte zu rekrutieren. Dafür ist es heute zu spät. Wer etwas kann, macht längst etwas anderes. Sollte es zu einem Bürgerkrieg kommen, und das ist meine größte Sorge, wäre die Truppe hoffnungslos überfordert.
Erös: Das glaube ich nicht. Dafür hat sich die Gesellschaft zu sehr verändert. Die Taliban haben in ihrer Zeit an der Macht von 1996 bis 2001 nicht nur ein brutales Regime errichtet, sondern auch gezeigt, dass sie gar nicht fähig sind zu regieren. Das wissen sie wohl heute auch selber. Was sie wollen, ist Einfluss und die Verwirklichung ihrer religiösen Ziele, wie die Einführung der Scharia. In paschtunischen ländlichen Regionen ist ihr Einfluss zuletzt gewachsen. Das liegt nicht nur daran, dass sie sich aus Paschtunen rekrutiert, sondern auch daran, dass nicht wenige den Taliban zutrauen, die Korruption, die krakenartig alle Teile des Landes erreicht hat, zu bekämpfen.
Erös: Der britische Philosoph Sir Karl Raimund Popper hat die Politik gewarnt, dass der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, am Ende stets die Hölle produziert. Ich sehe mich in Afghanistan manchmal ein bisschen als jemand, der in der Vorhölle versucht, ein paar Flammen zu löschen. Im Ernst: Nur durch Bildung ist es möglich, Ländern der Dritten Welt eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich glaube, dass insbesondere gebildete Frauen als Mütter dazu beitragen können. Das braucht Geduld über Generationen, ist aber effektiv und auch bezahlbar.
Reinhard Erös
In den 60er Jahren diente Reinhard Erös als Elitesoldat, später, bis 2002, als Oberarzt. Der heute 65-Jährige ging in den vorzeitigen Ruhestand, nicht zuletzt, weil er den deutschen Einsatz in Afghanistan nicht mehr mittragen wollte. Mit seiner 1998 gegründeten Organisation Kinderhilfe-Afghanistan errichtete Erös mit Hilfe privater Spenden Schulen, Kindergärten, Mutter-Kind-Kliniken, Krankenstationen sowie Ausbildungswerkstätten. Bis heute entstanden 29 Schulen. Derzeit baut die Organisation eine Deutsch-Afghanische Universität, die 2014 eröffnet werden soll. Für sein Engagement erhielt Erös das Bundesverdienstkreuz. Außerdem schieb er Bücher über seine Erfahrungen, wie „Tee mit dem Teufel“ (2002) oder „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ (2008). FOTO: RE