Milan Horacek war 21 Jahre alt, als in der Nacht vom 20. auf 21. August 1968 Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling mit Gewalt beendeten. Die Jahre 1965 bis '67 hatte der Elektromonteur teils im Gefängnis, teils als Bausoldat verbracht. Kurz nach der Invasion floh er durch den Todesstreifen zwischen der Tschechoslowakei und Österreich nach Deutschland. In Frankfurt gehörte Horacek zu den Gründungsmitgliedern der Partei Die Grünen. Er wurde deren Abgeordneter im Frankfurter Römer, 1983 im Bundestag, 2004 zog er ins Europaparlament ein. Nun lebt er in Prag. Als Vertreter der Sudetendeutschen gehört er dem Präsidium des Bundes des Vertriebenen an.
Milan Horacek: Ein Verfahren vor dem Militärgericht gegen mich wurde eingestellt. Ich galt als politisch unzuverlässig und war angeklagt worden, weil ich laut gesagt hatte, dass wir in einem großen Gefängnis lebten. Alexander Dubcek als Chef der Kommunistischen Partei veränderte das politische Klima. Es wurde liberaler und menschlicher. Man sah Dubcek beispielsweise in der Badehose beim Kopfsprung. Bis dahin waren die Parteifunktionäre nur mit dunklem Mantel und Hut bei Parteisitzungen aufgetreten.
Horacek: Der Bautrupp, bei dem ich als Elektromonteur arbeitete, hatte gerade in Nordmähren eine Straße gebaut. Die sowjetischen Soldaten zerstörten sie mit den Panzern, als sie über Nacht in die Tschechoslowakei eindrangen. Wir waren sehr enttäuscht. Unser Vorarbeiter hat geweint. Er war Professor an der Technischen Universität in Brünn gewesen und musste aus politischen Gründen in der Produktion arbeiten.
Horacek: Ein Freund, der bei den Grenztruppen in Znaim diente, kannte das Grenzsicherungssystem. Wir sind zusammen Anfang September über den Todesstreifen ohne Pässe zu Fuß bis Österreich gegangen.
Horacek: Sehr freundlich. Beim Per-Anhalter-Fahren haben wir eine kleine tschechische Fahne gezeigt. Alle, die uns mitnahmen, haben uns als Flüchtlinge erkannt und uns zu essen und zu trinken gegeben. Wir konnten damals kein Deutsch, haben trotzdem in Deutschland als Elektromonteure schnell Arbeit gefunden. In Böhmen und Mähren waren wir gut ausgebildet worden. Das ist übrigens bis heute so. Die praktische Ausbildung in Tschechien ist sehr gut. Nur die höhere Bildung, die Menschen befähigt, auch politisch zu denken und die richtigen Entscheidungen zu treffen, wird völlig vernachlässigt.
Horacek: Die Bilder von Panzern auf dem Wenzelsplatz wurden im Farbfernsehen übertragen. Außerdem hatte die Bevölkerung die Flucht nach dem Ungarnaufstand miterlebt. Der Westen fühlte sich hilflos und konnte nur ohnmächtig zuschauen und nichts gegen die Sowjets unternehmen, so wie heute auch wieder, wenn die Russen gegen Abchasien und Georgien vorgehen.
Horacek: 400 000 Menschen wurden aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Die anderen wurden zu einer Nation der Korrupten, der Kollaboranten und der Ängstlichen. Die Gesellschaft ist bis heute kaputt. Die politische Kultur und das menschliche Miteinander fehlen.
Horacek: Ich traf Dany Cohn-Bendit und Rudi Dutschke, weil ich eine intellektuelle Reformzeitschrift für die tschechische Opposition namens „Listy“ herausgebracht habe. Cohn-Bendit bezeichnete sich als antikapitalistisch und antikommunistisch. Beide haben mir geholfen, Oppositionelle in der Tschechoslowakei zu unterstützen. Ab 1983 besuchten dann auch grüne Abgeordnete Vaclav Havel als Kopf der Charta 77 in Prag.
Horacek: Unter anderem, indem ich zusammen mit Joseph Beuys und Petra Kelly, unterstützt von Heinrich Böll, bei der ersten Europawahl 1979 angetreten bin. Wir haben uns für die Sonnenblume als Symbol und die Farbe Grün entschieden.
Horacek: 1990 galt in der Bevölkerung die Devise „Bereichert Euch und genießt alles“. Einkaufszentren wurden die neuen Kirchen. Vaclav Havels politische Ziele scheiterten. Nach seinem Abtreten schlug das Pendel zurück. Noch heute befindet sich die Tschechische Republik im Übergang von einer totalitären Republik zu einer demokratischen. Es herrschen Korruption, Hass und Nationalismus. Die Mächtigen von damals haben die Fäden in der Hand. Erst die jüngere Generation, die Sprachen lernt und versucht, mehr von der Welt mitzubekommen, wird das langsam verändern.
Horacek: Die EU wird von vielen nur als Melkkuh betrachtet. Sogar der Ministerpräsident und Milliardär Andrej Babis nimmt für seine vielen Agrarbetriebe EU-Subventionen in Milliardenhöhe. Nach der Erweiterung übernahmen nicht etwa die mitteleuropäischen Staaten die westeuropäischen Standards. Sie osteuropäisierten vielmehr die EU.