
Sehr geehrter Herr Goecke, ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen diesen Brief schreiben soll. Ein Künstler traktiert eine Kritikerin mit Hundekot – das ist so indiskutabel und grotesk, was soll man dazu noch sagen.
Denn genau das haben Sie getan: In der Pause einer Tanzpremiere am Staatstheater Hannover, dessen Ballettchef Sie waren, haben Sie die Kritikerin Wiebke Hüster erst verbal attackiert und ihr dann Hundekot ins Gesicht geschmiert.
Inzwischen sind weitere Details bekanntgeworden. So stammte der Kot von Gustav, Ihrem Dackel. Wiebke Hüster hatte offenbar schon öfter Choreografien von Ihnen verrissen, zuletzt eine in Den Haag. "Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit", schrieb Hüster in der F.A.Z.

Nun, das liest sich in der Tat nicht sehr schmeichelhaft. So ein Verriss kann Vorverkaufszahlen torpedieren und zu Stornierungen führen. Und dann sind da noch die seelischen Folgen. Ich weiß, dass Kunstschaffende sich mitunter von einer "vernichtenden Kritik" tatsächlich vernichtet oder zumindest existenziell infrage gestellt fühlen, Herr Goecke.
Dass im Gegenzug Künstler Kritiker beschimpfen, sie ohrfeigen, ihnen den Block aus den Händen reißen, ihnen mit Hausverbot drohen - alles schon vorgekommen. Richard Wagner hat seinen schärfsten Kritiker, Eduard Hanslick, sogar als Unsympath Beckmesser in der Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" verewigt. Das ist dann doch eleganter als... naja, Sie wissen schon.
Unfaire Kritiken fallen meist ohnehin auf den Autor oder die Autorin zurück
Die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, Karin Beier, hat 2021 die Kritik als "Scheiße am Ärmel der Kunst" bezeichnet. Ich bin selbst Kritiker. Ich war glücklicherweise noch kein Opfer von Hundekot-Attacken und komme meines Wissens bislang auch in keiner Oper vor. Aber mit verletzten Künstlerinnen und Künstlern hatte ich auch schon zu tun. Da wird man schonmal als begriffsstutziger Trottel, überheblicher Miesmacher oder kleinlicher Haarspalter bezeichnet.
Ein Veranstalter drohte mir einmal mit "anwaltlichen Schritten", weil ich geschrieben hatte, dass bei einem Klavierabend der Flügel verstimmt war. Argument des Veranstalters: Das könne nicht sein, der Flügel werde zweimal im Jahr gestimmt. Wer weiß, dass Flügel in aller Regel vor jedem Konzert gestimmt werden (und manchmal zusätzlich in der Pause), wird verstehen, dass ich den "anwaltlichen Schritten", die dann auch ausblieben, mit großer Gelassenheit entgegensah.

Aber so ist das nunmal: Wer öffentlich Kunst macht, muss sich der Diskussion darüber stellen. Und wer kritisiert, muss mit dem Ärger der Kritisierten zurechtkommen. Solange dieser in halbwegs zivilisierten Formen bleibt, versteht sich. Meiner Erfahrung nach fallen unfaire Kritiken übrigens meist ohnehin auf den Autor oder die Autorin zurück.
Ich halte auch wenig davon, jetzt von einem Angriff auf die Pressefreiheit zu reden. Hier steht nicht die Pressefreiheit auf dem Spiel, sondern die Kunstfreiheit. Denn der haben Sie mit Ihrer Aktion, die Sie in einer ersten, eher halbherzigen Entschuldigung wenig überzeugend als Affekthandlung bezeichnen, einen Bärendienst erwiesen.
Wasser aus vollen Rohren auf die Mühlen der Gegner von Kultursubventionen
Sie, Herr Goecke, haben aus vollen Rohren Wasser auf die Mühlen derer gegossen, die den "hochsubventionierten Kulturbetrieb" in die Pflicht "des Steuerzahlers" nehmen oder am liebsten gleich ganz abschaffen würden. Nach dem Motto "Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst..." Sie spielen mit Ihrem Ausfall direkt denen in die Hände, für die Kunst immer "schön", "positiv" oder gar "deutsch" sein sollte.
Die Diskussion über despotische Intendanten oder Regisseurinnen und undemokratische, autoritäre Strukturen an deutschen Theatern müssten Sie doch auch mitbekommen haben, oder? Ihre Kot-Attacke bestätigt aufs Unglücklichste das Zerrbild des genialischen Egomanen, der sich auf Kosten der Allgemeinheit über jede Kritik erhaben wähnt. Dabei sind Sie ein vielfach ausgezeichneter und sehr oft positiv rezensierter Choreograf. Dass Ihr Name ab jetzt möglicherweise nicht mehr zuerst mit Ihrer Kunst in Verbindung gebracht wird, haben Sie ausschließlich sich selbst zuzuschreiben.
Auf der Homepage des Staatstheaters Hannover, das Sie soeben gefeuert hat, steht über Sie: "Neben dem mikroskopischen Blick auf den Körper gewährt er psychologische Blicke in das Innere des Menschen – auch in sein eigenes." Diesen jüngsten Blick in Ihr Inneres hätten Sie sich, uns und natürlich auch Wiebke Hüster vielleicht doch lieber erspart, Herr Goecke.
Mit immer noch fassungslosen Grüßen,
Mathias Wiedemann, Redakteur
Weder da eine noch das andere steht auf dem Spiel. Es war eine höchstpersönliche Auseinandersetzung, zumindest auf Seite von Herrn Goecke.
Ich weiß auch nicht warum so intensiv darüber berichtet wird? Hätte Herr Goecke seiner Kritikerin einfach eine "gescheuert" oder sie massiv beleidigt hätte kaum eine Zeitung der Welt ein Wort darüber verloren zumindest hätte es nicht diese Kreise gezogen.
Und wenn ein Mitarbeiter eines Industriebetriebs seinen Chef oder einen Kunden mit Hundekot beschmiert wäre das auch maximal eine Meldung in der Lokalzeitung wert gewesen.
Einen Promibonus oder öffentliches Interesse kann ich ebenfalls nicht erkennen. Die beiden Protagonisten dürften wirklich nur einer sehr kleinen eingefleischten Minderheit bekannt sein.
Künstlerisch auch in die “Kacke“gefasst.
Wer Psychisch oder Physisch eine Person diffamiert, so dass seine Persönliche bzw. Wirtschaftlich Lage dem Untergang gleicht, sollte dafür auch zum Kampf bereit sein.
Und wer als Kunstschaffender die Meinung seines Publikums nicht ohne (und in diesem Fall psychologisch aus meiner Sicht höchst bedenkliche) Ausraster ertragen kann, der hat den falschen Beruf.
Alleine die Idee, einen Menschen anzugreifen, weil er das eigene Kunstverständnis nicht teilt, ist doch völlig irre.
Der Mann gehört in eine Therapie – und nicht als Kunstschaffender in die Öffentlichkeit!
Aber ist das ein Samstagsbrief? Ist es das wert? Wen juckt das in der MP?
Ansonsten werden doch eher Menschen an den Pranger oder in eine Ecke gestellt oder man wird mit politischer Meinungsbeeinflussung für bestimmte Richtungen berieselt!
... obwohl, da ist das doch schon viel besser!
Aber ihr "offener Brief" hat einen dermaßen penetranten Stallgeruch.
Ich kann verstehen, dass sie es als Berufsethos verstehen, ihre Mitstreiterin zu schützen.
Und ich bin ganz ihrer Meinung, dass die Aktion "unter aler Sau" war und so nicht akzeptabel ist.
Aber mal ganz anders betrachtet.
Was bitte ermächtigt diese Wiebke Hüster (o. vergl.) die Arbeit eines anderen Menschen öffentlich und mit großer Reichweite zu verunglimpfen?
Dass, was Frau Hüster schreibt, geht deutlich an einer Berichterstattung vorbei, sondern dient allein dazu, andere Menschen zu diskreditieren.
Noch peinlicher wird es, wenn man als Zuschauer eine Veranstaltung besucht, zwei Tage später eine Kritik in der Zeitung liest und genau weiß, dass diese Person überhaupt nicht anwesend war!
Es ist an der Zeit, dass sich unsere Journalisten mal wieder eines vor Augen halten: (un)sinnige Texte kann jedes Kind schreiben. Andere zu verunglimpfen ist nicht nur kindisch, sondern Rufmord!
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Wir leben in einer Zeit, die sich - nicht selten mit Doppelmoral, heuchlerisch und interessengeleitet - mächtig gegen "Hass und Hetze" positioniert. (Und ich rede hier nicht von berechtigter Strafverfolgung bei Volksverhetzung, Rassismus und politisch-ideologischer Hasskriminalität).
Journalisten und Medienschaffende hingegen können sich offenbar unter dem Label "Kritik" oder "Kommentar" jegliche Hetze, Entwertung, Diffamierung des Gegenübers erlauben.
Das Opfer kann sich ja nicht wehren.
Jetzt hat sich halt mal einer so gewehrt, dass es zur Kenntnis genommen wurde und nachriecht.
Das Mimimi der "nach-unten"-Treten-Fraktion seither : erwartbar!
Die Realität und Lebenswirklichkeit spielt sich eben nicht nur zwischen Zeilen ab.
Das entschuldigt freilich nichts. Dass jegliche Form von Gewalt einfach „Kacke“ ist, sollte klar sein.
Kunstkritik ist immer eine höchst subjektive, individuelle Meinungsäußerung des Kritikers.
Warum wir einzelnen Individuen ein „besonderes Kunstverständnis“ zuschreiben und ihre Meinung medial über alle anderen stellen – mir ist das ein Rätsel. Aber das ist nun mal so – und es ist hier nicht das Thema.
Hier geht es darum, einer negativen Kritik mit einer körperlichen Attacke zu begegnen - und das ist absolut indiskutabel. Dieser Mann hat sich in jeder beliebigen Hinsicht selbst disqualifiziert.
Und Formulierungen wie „Wenn sie verbal mit Kot um sich schmeißt, muss sie sich eigentlich nicht wundern, wenn sie sich plötzlich mit einem inkarnierten Echo konfrontiert sieht.“ sind nicht als anderes als klassisches „Victim blaming“.
Sollen die Kunstkritiker zukünftig bei der Formulierung ihrer Kritik Rücksicht auf das mögliche „Echo“ nehmen – im Ernst jetzt?
Für den Journalismus sehe ich durchaus Entwicklungsmöglichkeiten. Als Beispiel seien die Arbeiten von Stefan Schultz unter dem Stichwort „Integraler Journalismus“ genannt. Siehe https://www.integraler-journalismus.org
Aber Sie haben mich neugierig gemacht – also habe ich die Kritik doch noch gelesen.
Und jetzt verstehe ich es noch weniger … Die Kritik von Frau Hüster ist eben kein hirnloser, ehrverletzender, beleidigender Verriss.
Es ist eine differenzierte Kritik, mit durchaus positiv hervorgehobenen Elementen – wenngleich die Choreographie im Gesamturteil nicht gut wegkommt.
Es ist – wie ich finde – interessant geschrieben, durchaus mit einem gewissen Sprachwitz und, ja, mit einer gewissen Direktheit. Aber ich bin mit Marcel Reich-Ranicki aufgewachsen – für mich darf eine Kritik auch mal direkt sein 😉
Ihr Zitat: „Aber ich kann ihn zumindest auf der menschlichen Ebene verstehen.“
Und genau das kann ich eben nicht – nicht auf der Grundlage DIESER Kritik … und auch nicht auf der Grundlage IRGENDEINER anderen Kritik …
So etwas ist aus meiner Sicht völlig aus der Zeit gefallen. Sagt Ihnen der Name Marshall Rosenberg etwas?
Insofern finde ich, dass auch der Bezug zu Marshall Rosenberg nicht so 100-prozentig passt – denn eine direkte Kommunikation zwischen dem Künstler und dem Kritiker liegt hier ja gar nicht vor.
Was mir bei Ihrer Argumentation ein wenig aufstößt: Sie scheinen sich mehr über die (aus Ihrer Sicht bestehende) „Gewalt in der Sprache“ zu echauffieren als über den physischen Akt der Gewalt selbst.
Bei mir ist andersherum. Ich halte es mit dem alten Spruch
"Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation."
Und in diesem Sinne war das Verhalten von Herrn Goecke maximal unzivilisiert!
Machen wir doch mal den Realitätscheck: „Das Stück […] ist eine Blamage und eine Frechheit" schrieb Hüster in der FAZ. Angenommen, ich schriebe: „Der Kommentar von [xy] hier in der Main-Post ist eine Blamage und eine Frechheit.“ Abgesehen davon, dass er vermutlich gar nicht durch den Etiquette-Filter käme: Was glauben Sie, wie würde sich [xy] danach fühlen?
Für mich ist der Unterschied erheblich – und für das Strafrecht übrigens auch … 😉
Zitat christian_msp: „Verbale Gewalt kann jederzeit in physische Gewalt eskalieren.“
Die Mediziner nennen das „Impulskontrollstörung“ … 😉
Machen wir doch mal den Gegen-Realitätscheck: Angenommen, ich schriebe, dass ich Ihre Auffassung als arrogante, ignorante und anmaßende Beleidigung empfinde, weil ich selbst schon Opfer physischer Gewalt aus nichtigem, nicht zu rechtfertigendem Anlass geworden bin …
Oder ich schmiere ihnen eine Handvoll Hundekot in die Nase …
Würden Sie diesen Unterschied dann auch als Betroffener noch als „graduell“ ansehen?
Jüngstes Beispiel die putinsche Staatspropaganda: Ukrainer werden verbal zu verhassten Tieren degradiert und junge, hirngewaschene Russen ziehen nur zu bereitwillig in den "heiligen" Krieg.
Wie gesagt, mein Punkt war hier nicht, die Überreaktion eines Künstlers zu entschuldigen. Sondern aus der Perspektive der Sprache ein wenig Verständnis für ihn zu äußern. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mir das zugestehen könnten. Und ja, es gibt auch physische Gewalt ohne "Vorgeschichte"zwischen den Beteiligten. Dass Sie diese Erfahrung selbst bereits machen mussten, tut mir sehr leid für Sie.
Kennen Sie Douglas Adams? In seinem Kultwerk „Per Anhalter durch die Galaxis“ schrieb er über ein kleines, fiktives Wesen namens Babelfisch. Man steckt es sich ins Ohr und kann dann alles verstehen, was ein Angehöriger einer fremden Zivilisation in einer fremden Sprache sagt. Der Autor führt ironisch aus: Zwar beseitigte es von da an die babylonische Sprachverwirrung, jedoch führte es zu mehr und zu blutigeren Kriegen zwischen den Bewohnern der Galaxis als jemals zuvor. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Babelfisch